Publiziert am: 22.11.2019

Progressiv? Eine Frage des Standpunkts

Er hat das Zeug, zum Wort des Jahres zu werden. Der Begriff «progressiv». Fast inflationär taucht er in den Selbstbezeichnungen von politischen Parteien auf. Zum Beispiel bei den Grünen. Aber auch die Sozialdemokraten bezeichnen sich gerne als «fortschrittlich».

Ein klarer Fall also? Links heisst progressiv? Bürgerliche Parteien und Wirtschaftsverbände sind’s nicht? Mitnichten. Aber es passt zur heutigen Tendenz, politische Begriffe für sich zu vereinnahmen und zu Kampfbegriffen zu machen. Zu Begriffen, die andere Gruppen ausschliessen respektive abwerten. «Wer uns nicht wählt, ist nicht fortschrittlich», heisst die Devise. Besonders in diesem Wahlkampf habe ich diese Form von Polarisierung und von Abgrenzung verstärkt beobachtet.

Begünstigt wird dieser Trend durch die Social Media. Das ist eigentlich paradox. Denn eigentlich haben sich dank ihnen unsere Kommunikations- und Austauschmöglichkeiten unglaublich erweitert. Und trotzdem fördern die Social Media nicht selten das Gärtchendenken und die Abschottung. Viele bewegen sich online oft in Filterblasen, in Communitys mit Gleichgesinnten. Wenn aber nur noch Informationen, die der eigenen Meinung und dem eigenen Weltbild entsprechen, die Informationsfilter passieren, dann begünstigt das die Abgrenzung; die Fronten werden verhärtet.

Die Intoleranz gegenüber Menschen mit einer anderen Meinung wird dadurch verstärkt. Insbesondere bei den politischen Kräften, die sich gerne als progressiv bezeichnen. Denn alleine schon mit dem Wort «fortschrittlich» scheint die Annahme einer moralischen Überlegenheit einherzugehen.

Dies schadet dem politischen Diskurs und der guten Lösungsfindung. Diese leben eben gerade von der Auseinandersetzung verschiedener Meinungen auf Augenhöhe. Ich denke, hier würden etwas mehr Offenheit und Verständnis guttun. Konkret: Wenn man dem anderen einfach von vornherein attestieren würde, dass auch er oder sie gute Absichten hat, dann wäre schon viel gewonnen. Wenn man anerkennt, dass andere Menschen andere Überzeugungen haben, die ebenso legitim sind. Das heisst nicht, dass man diese Meinung teilen muss. Aber: Weil eine andere Person eine andere Meinung hat als ich, ist diese noch lange kein schlechterer Mensch.

Vielleicht hat es im 19. Jahrhundert noch funktioniert, die Welt in Konservative, Liberale, Sozialisten und Radikale et cetera einzuteilen. Die Realität sieht heute vielfältiger aus. Auch Begriffe wie «progressiv» lassen sich nicht mehr einfach einer Partei zuordnen und für sich vereinnahmen. Nehmen wir beispielsweise die Erhöhung des Rentenalters. Das Festhalten am Rentenalter 65 für Männer und 64 für Frauen ist im Grunde eine klassisch konservative Haltung. Es ist der Versuch, ein Modell zu bewahren, das von der demographischen Entwicklung längst überholt worden ist. Fortschrittlich wäre, das Rentenalter an die Realität anzupassen – auch mit Blick auf die Zukunftsfähigkeit der Altersvorsorge.

Bei den letzten Wahlen wurde der Begriff «progressiv» häufig im Zusammenhang mit den Grünen verwendet. Doch auch hier ist die Realität natürlich vielfältiger. Die politische Philosophie des Progressivismus baut auf dem Grundgedanken des Fortschritts in den Bereichen der Wissenschaft, Technologie, wirtschaftlichen Entwicklung und Organisation auf. So kollidiert beispielsweise der Widerstand von linken und grünen Parteien gegen die Einführung und Verbreitung der 5G-Technologie hart mit dem Label «progressiv». Ebenso wehren sich grüne Organisationen nicht selten, wenn irgendwo eine Windenergieanlage aufgestellt oder eine Staumauer erhöht wird. Dort soll die Landschaft so bewahrt werden, wie sie ist.

Nur diese wenigen Beispiele zeigen: Was progressiv ist, ist oft eine Frage des Standpunkts. Die Realität ist eben doch etwas farbiger und vielfältiger als nur schwarz und weiss. Oder um es abschliessend mit den Worten des Theologen Thomas Holtbernd zu sagen: «Wer konser­vativ denkt, muss nicht altmodisch sein, er will nur das bewahren, was er braucht, um progressiv sein zu können.»

* Marcel Schweizer ist Präsident des Gewerbeverbands Basel-Stadt und Inhaber eines Gartenbauunternehmens.

www.gewerbe-basel.ch

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