Publiziert am: 17.10.2014

Rechtsstaat oder Demokratie?

Tribüne 

Demokratie hat viele Vorzüge, doch die Bedeutung eines unbestechlichen Rechtsstaats und starker individueller Rechte sollte dabei nicht übersehen werden – in Hongkong wie auch in der Schweiz.

Die Schweiz bleibt auch 2014 das Land mit der europaweit grössten wirtschaftlichen Freiheit. Weltweit kommt sie auf Rang 4 des internationalen Index wirtschaftlicher Freiheit 2014, der jüngst in der Schweiz vom Liberalen Institut präsentiert wurde. In den vergangenen zehn Jahren haben die Werte der Schweiz allerdings deutlich nachgegeben, auch im Vergleich zum Vorjahr verliert sie weiter an Boden. Die wichtigste Ursache für diesen Abstieg: abnehmende Rechtssicherheit. Vor allem die Übernahme internationaler Regeln und die Flut schädlicher Volksinitiativen spiegeln sich hier wider.

Unter den zehn wirtschaftlich freiesten 
Ländern der Welt finden sich neben 
Hongkong, Singapur, Neuseeland und der Schweiz auch Mauritius, die Vereinigten 
Arabischen Emirate, Kanada, Australien,  
Jordanien, Chile und (als erstes EU-Land) Finnland.

Der aktuelle Jahresbericht des Index dokumentiert einen signifikant positiven Zusammenhang zwischen Wirtschaftsfreiheit, Einkommen, Wirtschaftswachstum, Armutsreduktion und Lebenserwartung. Staaten im obersten Viertel der Skala weisen ein Pro-Kopf-Einkommen von 39 899 US-Dollar auf, Staaten im untersten Viertel nur von 
6253 USD. Das Einkommen der ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung beträgt im oberen Viertel der Skala 11 610 USD, im unteren Viertel 1358 USD. Das Einkommen der ärmsten zehn Prozent in den liberalen Ökonomien ist mehr als doppelt so hoch wie das Durchschnittseinkommen in den wirtschaftlich unfreien Volkswirtschaften.

Die Lebenserwartung im wirtschaftlich freiesten Viertel der Welt (79,9 Jahre) ist mehr als 16 Jahre höher als die Lebenserwartung im unfreiesten Viertel. Wirtschaftliche Freiheit korreliert darüber hinaus positiv mit politischen Freiheitsrechten und negativ mit der Auftretenswahrscheinlichkeit bewaffneter Konflikte.

Diese Tatsachen stellen die Proteste in Hongkong, der weltweit wirtschaftlich freiesten Gebietskörperschaft, in ein neues Licht. Die demokratische Idee ist zweifellos attraktiv. Die meisten Bürger Hongkongs schätzen aber vor allem auch den Rechtsstaat und ihre individuelle Wahlfreiheit. Demokratie allein ist nun mal kein Garant für Wohlfahrt. In vielen Ländern ohne Rechtsstaat heisst Demokratie bloss die gelegentliche Wahl eines ausbeutenden Diktators oder einer korrupten Machtelite. Im demokratischen Indien leben etwa zwei Drittel der Bevölkerung in absoluter Armut. Gerade im Vergleich mit Hongkong zeigen sich hier die schmerzhaften Folgen eines mangelhaften Rechtsstaats.

Auch die Schweiz ist nicht durch Wahlen und Abstimmungen reich geworden, sondern dank ihrer freiheitlichen Verfassung, die im 19. Jahrhundert ein liberales Fenster für Unternehmertum und Wachstum öffnete. Das Doppelmehr der Kantone in verfassungsrechtlichen Fragen, die garantierten Grundfreiheiten und das Vetorecht der Bürger begrenzen die Willkür der Mehrheitsregel im Volk und Parlament. Institutionelle Einrichtungen wie die Schuldenbremse schränken ebenfalls die Beliebigkeit der demokratisch legitimierten Politiker ein. Bei allen Vorzügen ist die Demokratie leider auch mit der Gefahr verbunden, zu blosser Dema­gogie zu degenerieren, etwa wenn Politiker Wahlgeschenke auf Kosten anderer verteilen und damit die spontane Ordnung des Marktes untergraben.

Die Hongkonger haben schnell erkannt, wo ihre Stärken liegen. Eine technokratische Regierung ist einer fortschrittlichen Gesellschaft kaum angemessen. Vor allem aber sind politische Willkür und Korruption eine Gefahr für individuelle Freiheitsrechte. In den aktuellen Demonstrationen geht es darum weniger um Wahlrituale, als um die Verteidigung ziviler und wirtschaftlicher Freiheiten. Es ist zu wünschen, dass die Schweizer ebenfalls wissen, dass nicht nur die Demokratie, sondern vor allem ein zuverlässiger Rechtsstaat, starke individuelle Rechte und institutionelle Begrenzung politischer Willkür ihren Erfolg sichern. Die Ablehnung der Volkswahl des Bundesrates scheint dies zumindest anzudeuten.

*Pierre Bessard ist Direktor des Liberalen Instituts in Zürich.

Die Tribüne-Autoren geben ihre eigene Meinung wieder; diese muss sich nicht mit jener des sgv decken.

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