Publiziert am: 29.04.2022

Russland als ESG-Supergau

FINANZANLAGEN – Die Grossprediger des ESG beteuern stets die Über­le­gen­heit ihres Glaubens. Doch ob Publica oder Suva: Alles ESG der Welt hat diese hehren Institutionen nicht vor rus­sischen Anlagen bewahrt.

ESG – Environment, Social, Governance – ist die neue Religion am Finanzplatz. In der Schweiz übernehmen oft Banken und Pensionskassen die Rolle der Priester und Chorknaben in der Verkündung der scheinbar so frohen ESG-Botschaft.

Dabei gibt es, streng genommen, zwei Kirchen in diesem Glauben. Die einen behaupten, ESG verringere das Risiko von Anlagen. Die Logik dahinter ist, dass ESG besonders problematische Investitionen von Anfang an geringer gewichtet oder auf die Investitionen einwirkt, damit sie ESG-kompatibel werden. Die anderen glauben, ESG-Anlagen würden besser als andere abschneiden. Denn die Menschen und die Wirtschaft seien bereit, einen höheren Preis zu bezahlen, wenn Güter umweltfreundlich und sozial hergestellt werden und Unternehmen eine bessere Gouvernanz haben. Das führe zu höheren Renditen.

Niemand hat mit Russland gerechnet

Aktuell zeigt der Krieg Russlands gegen die Ukraine aber deutlich auf, wie leer beide Versprechen sind. Zu ESG als Renditetreiber: Nur ganz wenige Finanzfirmen in der Schweiz haben überdurchschnittlich viele Russland-Anlagen wegen ESG. Aber die wenigen, die es tun, räumen momentan eine Totalpleite auf. Es gibt keine Rendite. Und auch Russland oder russische Firmen haben keine bessere Führung wegen diesen ESG-Kreuzrittern, wie der verheerende Krieg das schonungslos aufzeigt.

Die meisten Banken, Vermögensverwalter und Pensionskassen, die angeben, aus Risikominimierungsgründen ESG zu machen, haben Investitionen in Russland. Niemand von ihnen hat vor dem Krieg Russland gemieden – ESG hin oder her. Einige von ihnen sind nach der russischen Invasion in der Ukraine aus russischen Anlagen ausgestiegen. Sie haben die Verluste «realisiert» – d. h. ihren Kunden und Versicherten weitergegeben. Just in der schlimmsten Zeit haben sie die Risiken zu Buche schlagen lassen. Also hat keine der ESG-Kirchen eine Erlösung bieten können.

ESG ist kontraproduktiv

Das Interessante ist aber: Untersuchungen aus den USA – für die Schweiz liegen noch keine vor – legen nahe, dass ESG-konforme Anlagen mehr Russland-Risiken haben als traditionelle. Das hat wohl mit einem Substitutionseffekt zu tun. Statt in russische – und andere – Gas- und Ölproduzenten zu investieren, werden russische Anleihen und der Rubel übergewichtet, um ein Minimum an Diversifikation und Rendite zu gewähren. Das Geld, das aus dem Gas- und Ölsektor weltweit entzogen wird, wird teilweise an Russland gegeben.

Apropos «problematische» Sektoren: Wie sieht es mit der Herstellung von Waffen aus? Viele halten sie für inkompatibel mit ESG. Die Suva, die Publica und andere Pensionskassen singen in diesem Chor mit. Doch sei die Frage erlaubt: Ruft die Ukraine nicht gerade unüberhörbar nach Waffenlieferungen, um sich verteidigen zu können? Wäre die Verteidigung gegen einen brutalen Aggressor wie Russland demzufolge ESG-widrig?

Einseitige Fixierung macht blind

Erstens sind im Lichte des russischen Kriegs gegen die Ukraine ESG-Investitionen nicht besser gefahren als nicht-ESG Investitionen; eher schlechter. Zweitens hat die Fixation auf Klima die ESG-Gläubigen blind gegenüber der Gouvernanz und den politischen Risiken gemacht. Drittens führen ESG-Kriterien zu Verlusten.

Die grosse Frage ist demnach: Wird die ESG-Religion die Lehren ziehen, oder wird sie sich, ähnlich einem Teil der Klimabewegung, weiter radikalisieren – und sich von der Wirklichkeit endgültig verabschieden?

Henrique Schneider,

Stv. Direktor sgv

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