Publiziert am: 14.08.2020

«Sind am stärksten betroffen»

HOTELLERIE – Weg vom Massentourismus, hin zum Qualitätstourismus: Wie gelingt der Neustart? Philippe Thuner, Präsident von HotellerieSuisse Region Suisse romande, teilt seine Gedanken über eine angeschlagene Branche und die Notwendigkeit zum grossen Umdenken.

Schweizerische Gewerbezeitung: Soll der Schweizer Tourismus, der so lange auf die asiatische Kundschaft angewiesen war, seinen Fokus ändern und längerfristig Schweizer Gäste an sich binden?

Philippe Thuner: Nach dem Anstieg des Frankens gegenüber dem Euro hat Schweiz Tourismus versucht, den Verlust europäischer Kunden auszugleichen, indem es zu einem viel höheren Preis Kunden akquiriert hat, die potenziell weniger empfindlich auf Wechselkursdifferenzen reagieren – also Kunden von anderen Kontinenten, wie zum Beispiel aus Asien. Diese Klientel ist aktuell verschwunden. Wir müssen uns fragen, ob die Zeit gekommen ist, wieder mehr auf den Märkten der Nachbarländer zu arbeiten.

Die Schweiz ist für den Massentourismus nicht geeignet, denn wir haben weder den Platz noch die Preise, um ihn zu beherbergen. Im Gegensatz zu Luzern und Interlaken – die sich sehr früh für grosse Volumen entschieden haben – hielten wir es im Kanton Waadt für besser, auf die zweite Welle asiatischer Touristen zu warten, die eher einzeln oder in kleinen Gruppen reisen. Aber Covid-19 ist und bleibt vorerst hier. Wir alle werden uns neu erfinden müssen.

Wie sehen Sie die aktuelle Situation in der Schweizer Hotellerie und was sollen wir von den jĂĽngsten Zahlen halten?

Die Anfang August veröffentlichten Zahlen zeigen einen historischen und massiven Rückgang der Übernachtungen im Juni. Die Waadt ist stark betroffen (-70%), während der Rückgang für den Jura (-19%), Neuenburg (-29%) und Freiburg (-47%) einigermassen begrenzt blieb. Der Rückgang steht im Verhältnis zur Abhängigkeit von internationalen Gästen.

Die gegenwärtige Situation ist katastrophal. Die Folgen werden im Jahr 2021 und sicherlich auch noch im Jahr 2022 spürbar sein. Das Geschäft wird sich nicht schnell erholen. Für einige Hotels ist es schon jetzt eine Tragödie: Ich kenne den Besitzer eines kleinen Etablissements in der Stadt, dessen Umsatz von 150 000 Franken im Juni 2019 auf 20 000 Franken im Juni 2020 zurückging.

«DIE GEGENWÄRTIGE SITUATION IST KATASTROPHAL.»

MĂĽssen wir mit weiteren Konkursen und Schliessungen rechnen?

Nach Angaben der Hochschule für Tourismus in Sierre (HES-SO Wallis) dürfte ein Viertel der Schweizer Hotels infolge der Krise Konkurs gehen. Vielleicht dürfen wir aktuell etwas optimistischer sein, aber es bleibt schwer abzuschätzen, wie sich die Dinge entwickeln werden. Fast alle haben Kurzarbeitsentschädi­gungen (KAE) erhalten. Und gemäss unserer Umfrage haben 80 Prozent einen Covid-19-Kredit beantragt.

Welche Unterschiede beobachten Sie in den Regionen?

Es sind die traditionellen Tourismusgebiete, in denen es gut läuft. In den Bergen, in Seegebieten oder an Orten, die zum Velofahren einladen. Ich war in Graubünden, wo die Anzahl an Übernachtungen hoch ist und ein guter Herbst erwartet wird. Die Reservationszahlen für September und Oktober sind ausgezeichnet dort. Die Städte hingegen leiden. In der Romandie hat die Waadt den stärksten Rückgang zu verzeichnen, auch wenn einige Hotels an der Riviera einen recht guten Sommer haben – besser als in Lausanne oder Genf. Die Schweizer Gäste senken den Druck ein wenig, aber die Gäste aus dem asiatischen Raum fehlen natürlich. Es bleibt abzuwarten, ob es in den Bergen gut läuft und wie es im Winter sein wird.

Was sind die möglichen Ent­wicklungen und wie kann das Vertrauen der Menschen zurückgewonnen werden?

Für einen Neustart ist nicht unbedingt ein Impfstoff erforderlich, aber zumindest eine Behandlung, die Todesfälle verhindert, wäre wichtig, um das Vertrauen der Menschen wiederherzustellen. Unsere Branche war die erste, die betroffen war. Mitte März waren die Hotels innerhalb weniger Minuten fast leer. Und wir werden auch die Letzten sein, die wieder zurückkommen, auch erst nach den Fluggesellschaften. Letztendlich sind wir in wirtschaftlicher Hinsicht der am stärksten betroffene Sektor.

Was ist mit dem Fall Genf? War es die falsche Strategie, mit vielen Fünfsternehotels und Luxus ausländische Gästescharen anzulocken, statt auf Schweizer Gäste zu setzen, die heute so schmerzlich vermisst werden?

Das ist schwer zu sagen. Genf ist eine internationale Stadt, und das Hotelgewerbe ist ein Spiegelbild dieser Stadt. Mit dem zweiten UNO-Hauptsitz, zahlreichen internatio­nalen Organisationen und einer Vielzahl von Institutionen, die allesamt mit dem Flughafen zusammenarbeiten, ist alles miteinander verbunden. Vielleicht ist die Schweizer Klientel vernachlässigt worden, weil es ihr international sehr gut ging – vielleicht zu gut. Wenn man auf der grossen Welle surft, macht man sich wohl nicht so viele Gedanken…

«UNSERE BRANCHE WAR DIE ERSTE, DIE BETROFFEN WAR.»

Wie gelingt der Neustart in der Branche?

Wir werden unseren Tourismus neu erfinden müssen, jedes Reiseziel, jedes Hotel wird darüber nachdenken müssen. Vor zwei Jahren hat die Region Morges Schritte unternommen, um sich als «langsames» Tourismusziel zu positionieren, indem sie eine gewisse Lebenskunst, lokale Produkte und die Attraktivität ihrer Landschaft bis zum Fusse des Juras in den Vordergrund stellt. Diese neue Strategie kommt zur richtigen Zeit für die Wiederbelebung nach Covid-19. Sie zielt auf Urlaubstouristen – insbesondere Schweizer – ab, um den Rückgang im Geschäftstourismus auszugleichen.

Welche Gedanken mĂĽssen sich die Unternehmen konkret machen, um sich neu zu erfinden?

Wir brauchen mehr Qualitätstou­rismus, der an unsere Räume und unsere Preise angepasst ist. Weniger Massentourismus, weniger Geschäftstourismus in den Städten. Vielleicht ist die Krise eine Trendwende und es wird in Zukunft weniger gereist? Auch frage ich mich, ob wir am Ende der Billigflüge angelangt sind. Das Fliegen müsste in Zukunft teurer werden. Zumindest teurer als nur fünfzig Franken für einen Barcelona-Flug!

BefĂĽrchten Sie eine zweite Welle?

Im Moment befinden wir uns noch in der ersten Welle. Die Behörden scheinen sich bisher vor allem darauf konzentriert zu haben, dass das Gesundheitssystem seine Kapazitäten nicht überschreitet. Dann hat das Virus noch einmal zurückgeschlagen. Ich hoffe, dass diese erste Erfahrung uns gelehrt hat, schneller zu reagieren. Damit können wir spätere Auswirkungen verhindern. Wir müssen noch einige Zeit mit diesem Virus leben müssen, bis wir wieder auf Massnahmen der Hygiene und Distanz verzichten können.

Welche Erwartungen haben Sie an die Politiker in Bern und in den Kantonen?

Wir hätten es vorgezogen, dass der vereinfachte Zugang zur KAE bleibt. Wir haben in dieser Hinsicht alles versucht, aber geben die Hoffnung nicht auf und werden uns weiter engagieren und uns auch für A-fonds-perdu-Beiträge einsetzen.

Bei uns in der Romandie hat der Kanton Freiburg fĂĽnf Millionen Franken zur Deckung der Hypothekenzinsen von Hotels in Schwierigkeiten bereitgestellt. Neuenburg hat seinerseits 1,7 Millionen bereitgestellt. Diese werden nach der Zahl der Ăśbernachtungen im Jahr 2019 verteilt. Die Waadt hat keine solche Hilfe.

Der Kanton Waadt hat also gar nichts fĂĽr die Hotellerie unternommen?

Ein nicht rückzahlbares Hilfsprogramm für kleine Geschäfte und Bistros wurde im Mai für einen Betrag von 20 Millionen eingeführt, aber 15 Millionen davon blieben ungenutzt. Dieser Betrag wurde über die Internetplattform QoQa in Form von Corona-Gutscheinen umverteilt, die von verschiedenen Dienstleistungserbringern (Weinbauern, Restaurants, Hotels, Händlern, usw.) genutzt werden können: Der Kanton bezahlt den dem Kunden gewährten Rabatt von 20 Prozent und weitere 10 Prozent an den Dienstleistungserbringer. Allerdings war QoQa in der Deutschschweiz zunächst praktisch unbekannt. Es besteht daher die grosse Gefahr, dass unsere Hotels nur am Rande von dieser Aktion profitieren und die Westschweizer stattdessen einfach günstiger andere Waren und Dienstleistungen erwerben.

«SCHLIESSUNGEN WIRKEN SICH AUF DIE LOKALE UND REGIONALE WIRTSCHAFT AUS.»

Warum läuft das so?

Es scheint, dass der Kanton Waadt die direkte Hilfe blockiert. Der Dialog ist schwierig. Diese Hilfe wurde kleinen Unternehmen, Coiffeuren, Cafés, Kinderkrippen und der Kultur gewährt. Aber für die Hoteliers ist nichts vorgesehen. Die Frage, die sich heute stellt, ist, ob wir eine Reihe von Hotels, die zum Erbe unseres Landes gehören, in naher Zukunft in Konkurs gehen lassen werden. Denn eines ist klar: Die Schliessung eines Hotels wirkt sich auf die gesamte lokale und regionale Wirtschaft aus. Wir geben aber nicht auf, und die Hoffnung, gehört zu werden, ist nicht verloren!

Interview: François Othenin-Girard

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