Publiziert am: 10.11.2017

«Unsere Berufslehre ist ein Vorbild»

LUCA ALBERTONI – Der Direktor der Camera di Commercio Ticino (CC-TI) gibt anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums einen Überblick über die Tessiner Wirtschaft. Zu den Herausforderungen gehören die Digitalisierung, der Einkaufstourismus sowie die Bildung.

Schweizerische Gewerbezeitung: Können Sie uns anlässlich dieses 100-Jahr-Jubiläums erklären, wodurch sich die Situation des Tessiner Gewerbes und seiner KMU charakterisiert?

n Luca Albertoni: Wie in der übrigen Schweiz auch, besteht die Tessiner Wirtschaft hauptsächlich aus KMU. Das gilt für alle Sektoren, nicht nur für das Gewerbe. Ich kann getrost versichern, dass es in dieser Hinsicht keine Unterschiede mehr gibt zwischen dem Tessin und den übrigen Regionen der Schweiz. Gleiches gilt auch für die Gewerbebetriebe, die einen starken Wandel durchgemacht haben; beispielsweise bezüglich der Kompetenzanforderungen und natürlich vor allem im Zusammenhang mit einer ständig internationaler werdenden und stark auf den Export ausgerichteten Wirtschaft. Auch im Tessin stellt das Gewerbe weiterhin eine Referenz für das erfolgreiche duale Bildungssystem dar. Denn die Lehre bleibt ein Vorbild, dem sogar die Multinationalen folgen, die das Tessin insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten für sich «entdeckt» haben.

Welche Probleme respektive Vorteile bringt gegenwärtig die Nähe zur italienischen Grenze?

nDie Vorteile ergeben sich vor allem durch die Möglichkeit, Arbeitskräfte zu rekrutieren. Das gilt sowohl für Tätigkeiten, welche die Tessinerinnen und Tessiner selber nicht mehr attraktiv finden, als auch für qualifiziertes Personal. Ich denke da insbesondere an Bereiche wie Informatik, Spitalpflege usw., wo der Mangel an einheimischen Kräften speziell hoch ist. Andererseits darf man nicht verleugnen, dass es Probleme gibt im Zusammenhang mit unlauterem Wettbewerb gewisser italienischer Unternehmen, was vor allem die KMU und das Gewerbe trifft. Und nicht zu vergessen ist ein gewisser Lohndruck in den Dienstleistungsbereichen. Es handelt sich um Fragen, die wir sehr ernst nehmen, indem wir darauf achten, dass die Vorschriften eingehalten werden, oder indem wir neue einführen, ohne dabei die Wirtschaftsfreiheit zu gefährden. Eine Übung, die viel Fingerspitzengefühl verlangt.

Wie gehen Sie mit der Problematik des Einkaufstourismus Richtung Süden um?

nEs handelt sich um ein physiologisches Problem, das seit fast hundert Jahren zu reden gibt. Es ist sehr schwierig, es einzuschränken, auch weil die persönliche Freiheit fundamental bleibt und jeder so handeln kann, wie er es bevorzugt. Unsere diesbezügliche Arbeit ist eher «kultureller» Art. Wir versuchen, die 
Aufmerksamkeit auf die Folgen des Einkaufstourismus zu lenken: Die Schwächung des lokalen Handels und damit der Investitionen oder auch der Möglichkeit für die Unternehmen, Lehrlinge auszubilden.

Welchen Herausforderungen müssen sich Ihre Mitglieder in Zukunft stellen?

nDie Herausforderungen sind zahlreich, denn als Dachorganisation der kantonalen Wirtschaft müssen wir allen Sektoren Rechnung tragen. Jeder hat seine spezifischen Probleme. Doch ich denke, wie auf gesamtschweizerischer Ebene ist die Herausforderung der digitalen Transformation für die Geschäftsmodelle essenziell. Grund für uns, die Tessiner Unternehmen beim Vorgehen für eine Analyse ihrer Situation und bei der Suche nach Lösungen zu begleiten. Unser spezielles Augenmerk gilt deshalb der Bildung, und zwar nicht nur der Grund-, ­sondern auch der Weiterbildung.

«Es gibt keine Unterschiede mehr zwischen dem TEssin 
und den restlichen
REgionen.»

Wie sehen Sie die Rolle der Tessiner Handelskammer für die nächsten 100 Jahre?

nVorab in der Verteidigung der Wirtschaftsfreiheit, die unser Hauptanliegen ist. Die Mitglieder verlangen mehr und mehr nach Dienstleistungen wie etwa Beratung in juristischen oder exporttechnischen Fragen. Meiner Meinung nach wird das in den kommenden Jahren noch zunehmen. Aber die CC-TI ist bereit, sich dieser Herausforderung zu stellen.

Interview: François Othenin-Girard

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