Publiziert am: 19.11.2021

Verheerende «China-Strategie»

Selbstverständlich, längst nicht alles ist erfreulich, was sich in China abspielt. Marktwirtschaft bei gleichzeitigem kommunistischem Kontrollregime kann auf Dauer nicht reibungslos funktionieren. Gut möglich, sogar ziemlich sicher ist, dass Xi Jinping mit seinem autoritären Kurs Chinas Wirtschaftswunder gefährdet. Und ja, der menschenrechtliche Umgang mit Minderheiten im Reich der Mitte kann uns nicht gefallen. Da ist aber auch eine andere Seite: China hat in den letzten Jahrzehnten die enorme Leistung vollbracht, achthundert Millionen Menschen aus bitterster Armut in einen gewissen Wohlstand zu führen. Wir sind allzu schnell bereit, diese riesige Menschenrechtsleistung zu ignorieren.

Über all dies sollen und dürfen wir Schweizer diskutieren und streiten. Wir kennen zum Glück die Meinungsfreiheit und wollen keine Gesinnungsneutralität. Doch in den letzten Monaten hat sich in der hiesigen Politik eine gefährliche Unsitte breitgemacht: Die offizielle Schweiz hat begonnen, den Pfad ihrer bewährten Neutralität zu verlassen. Unter dem beharrlichen Druck der Linken hat der von mir geschätzte freisinnige Aussenminister Ignazio Cassis eine sogenannte «China-Strategie» entwickelt. Diese bedeutet nichts anderes als eine Kampfzone aktivistischer Menschenrechtspolitik. Und vor allem eine Abkehr von der bewährten Neutralität, welche die Schweiz im Umgang mit China stets beachtet hat. Weil unser Land Staaten, nicht aber Regierungen anerkennt, gehörten wir 1950 zu den allerersten Ländern, die China anerkannt haben.

Die neue, neutralitätswidrige «China-Strategie» aber schafft uns Feinde. Der chinesische Botschafter in Bern, aber auch Peking reagieren ausserordentlich befremdet. Die für uns wirtschaftlich enorm wichtige Grossmacht hat die hoffnungsvollen Verhandlungen über eine Erweiterung des Freihandelsabkommens auf Eis gelegt. Auf dem Spiel stehen nicht weniger als Milliarden von Exportfranken. Die eisigen Reaktionen waren vorauszusehen. Sie sind die Quittung für eine übermütige, zunehmend moralistische Aussenpolitik, die nicht mehr Ignazio Cassis und seine Diplomaten gestalten, sondern unverantwortliche Hasardeure wie Fabian Molina, Christa Markwalder und Tiana Moser.

Auf dem Spiel steht für die Schweizer Wirtschaft – für unsere Konzerne wie für unsere KMU – ein gigantischer Absatzmarkt. Der Export von Gütern und Dienstleistungen betrug im Jahr 2020 14,7 Milliarden Franken, während der Import die Rekordmarke von 16,1 Milliarden Franken erreicht hat. Grundlage dieser lebhaften Wirtschaftsbeziehungen bildete die Einhaltung einer strikt neutralen Position unseres Landes. Doch linke, moralintrunkene Politiker, Professoren und Journalisten verlangen statt nüchterner Zurückhaltung eine Politik des erhobenen Zeigefingers, der überheblichen Einmischung in innere Angelegenheiten von China. Und das Aussendepartement beugt sich leider diesem Druck.

Offenbar haben wir Schweizer vergessen, worin die Grundlagen unseres Wohlstandes bestehen. Stattdessen beherrschen neuerdings Gesinnungspolitiker die Szene, die sich allen Ernstes als globale Wohltäter und Gefühlsexperten aufspielen, die ihre persönlichen ideologischen Obsessionen zur Richtschnur der Aussenbeziehungen unseres Landes erklären. Nur schon das Wort Neutralität ist in diesen Schul- und Zuchtmeistern gleichbedeutend mit moralischer Feigheit.

Dabei ist China als Kampfzone schweizerischer Innenpolitik denkbar ungeeignet. Doch Aussenminister Cassis will die Mahnungen von bürgerlicher Seite, vor allem von der SVP, nicht hören. Er folgt dem Interventionismus der parlamentarischen Linken, der Mitte und der Linksfreisinnigen mit ihrem Moralkolonialismus. Es handelt sich bei ihnen um Berufspolitiker, die nicht um ihren Lohn zittern müssen, auch wenn die Schweiz in China keine einzige Schraube mehr verkauft. Der Bundesrat bräuchte statt einer konfrontativen «China-Strategie» dringend Nachhilfestunden in Sachen Neutralität. Aussenminister Ignazio Cassis müsste sich raschmöglichst befreien von den Wirrköpfen der Linken und dem Lichterketten-Flügel des Markwalder-Freisinns.

*Der Zürcher SVP-Nationalrat Roger Köppel ist Chefredaktor und Verleger des Wochenmagazins «Die Weltwoche».

www.weltwoche.ch

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