Publiziert am: 04.06.2021

Vitaminspritze für die Schweiz

INSTA Der Schweizerische Gewerbeverband stellt in einem Forderungskatalog klar, wie die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz auch ohne Institutionelles Rahmenabkommen gesichert werden kann.

Der EU-Marktzugang muss die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz steigern und kann deshalb nicht mit der Übernahme von teurer EU-Regulierung und gleichzeitiger Aufgabe von Schweizer Trümpfen und Souveränität einhergehen. Oberstes Ziel muss der Erhalt und die Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit bleiben.

Dies hat der grösste Dachverband der Schweizer Wirtschaft zu Wochenbeginn an einer Medienkonferenz klargestellt. Um dies allenfalls auch ohne ein Institutionelles Rahmenabkommen (InstA) zu erreichen, hat der sgv einen Forderungskatalog aufgestellt.

Heutiges InstA nicht geeignet

Die Schweizer Wirtschaft setzt sich grundsätzlich für den Zugang der Schweiz zum Binnenmarkt der Europäischen Union ein. Doch sgv-Präsident und «Mitte»-Nationalrat Fabio Regazzi beurteilt den aktuellen Vertragsentwurf zum Institutionellen Rahmenabkommen als nicht geeignet, die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz zu erhalten. Bereits früh hätten die Wirtschaft und teilweise auch die Kantone verschiedene Elemente des vorliegenden Abkommens kritisiert, sagte Regazzi vor den Medien in Bern.

Die umstrittenen Punkte und Roten Linie für die Verhandlungen seien: Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs in der Streitschlichtung, die flankierenden Massnahmen für den Schutz des Arbeitsmarktes, die Unionsbürgerrichtlinie, die Regelung der staatlichen Beihilfen sowie die absolute Guillotine-Klausel.

Unbestritten sei der Zugang zum Binnenmarkt der EU sei ein wichtiges Element für die Wettbewerbsfähigkeit. Gleichwohl müsse der Zugang im richtigen Kontext bewertet werden. Er sei eines unter vielen Mitteln zur Erhaltung und Steigerung der Schweizer Positionierung. «Wenn aber die Sicherung des EU-Marktzugangs nur mit der Übernahme von teurer EU-Regulierung und gleichzeitiger Aufgabe Schweizer Trümpfe und Souveränität möglich ist, ist dies kontraproduktiv. In dieser Form laufen wir Gefahr unsere eigene Wettbewerbspositionierung zu verlieren.»

Auch eine einseitige Übernahme von resp. Anpassung an EU-Recht, ohne dafür Zugeständnisse oder Gegenleistungen der EU zu erhalten, könne nicht akzeptiert werden. Gerade bei Projekten wie «Swisslex 2.0» beziehungsweise «Stabilex 2.0» stünden solche einseitigen Zugeständnisse an die EU im Vordergrund. Das Beispiel der Börsenäquivalenz habe aber gezeigt, dass solche Zugeständnisse von der EU noch lange nicht einfach übernommen würden.

Stockten die Verhandlungen zum Institutionellen Rahmenabkommen und damit zum Marktzugang, gebe es immer noch andere Möglichkeiten, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten und auszubauen, schloss sgv-Präsident Ragazzi.

Vitalisierung des Binnenmarktes

«Ein geeignetes Institutionelles Abkommen ist nur ein Mittel, die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz zu stärken. Der eigentliche Königsweg ist die Vitalisierung des Binnenmarktes in Kombination mit der internationalen Positionierung der Schweiz in einem kompetitiven Umfeld», erklärte sgv-Direktor Hans-Ulrich Bigler.

Die Einführung einer Regulierungskostenbremse sei für die Schweizer Wirtschaft das wohl effizienteste Mittel, um die Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität der Unternehmen zu fördern. Die Regulierungskostenbremse unterstellt Vorlagen, die besonders hohe Regulierungskosten auslösten oder mehr als 10 000 Unternehmen betreffen würden, dem qualitativen Mehr im Parlament. Aktuell sei da-von auszugehen, dass die Regulierungskosten jährlich um die 70 Milliarden Franken betragen, so Bigler weiter. Die Unternehmen hätten keinerlei Einfluss auf diese Kosten und könnten sie oft nicht durch Einsparungen in anderen Bereichen ausgleichen.

Durch das Vermeiden unnötiger Regulierungskosten steige die Produktivität gesamtwirtschaftlich – «ein Wachstumsprogramm aus eigener Kraft», das auch Arbeitsplätze schaffe und sichere.

Ein weiterer wichtiger Eckpunkt des Vitalisierungsprogramms sei die Anpassung des Arbeitsrechts an die Bedürfnisse des flexiblen Arbeitsmarkts. Der flexible Arbeitsmarkt sei einer der wichtigsten Standortfaktoren für die Schweiz; er werde jedoch durch starre Schutzmassnahmen des Arbeitsgesetzes eingeengt. Vor dem Hintergrund einer digitaler und flexibler werdenden Arbeitswelt müsse das Arbeitsrecht angepasst werden.

Weiter müsse bei den Sozialwerken das Gleichgewicht wiederhergestellt werden, indem ihre Leistungen auf ihre Finanzierung ausgerichtet würden. Erhöhte Lohnnebenkosten und höhere Mehrwertsteuern verringerten die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft. Gleichzeitig müsse mit der Einführung einer Schuldenbremse in den Sozialversicherungen die langfristige Finanzierung gerade auch für kommende Generationen sichergestellt werden.

Die Schweiz sei bekannt für die hochqualitative Arbeit, die in unserem Land geleistet werde. Diese Besonderheiten der Schweiz gingen schwergewichtig auf die Berufsbildung zurück. Sie sei also zusammen mit der Höheren Berufsbildung essenziell für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft.

Als letzten Punkt erwähnte Bigler die Digitalisierung, welche einen Wandel der wirtschaftlichen Strukturen auslöse und so zur Steigerung der Schweizer Wettbewerbsfähigkeit beitrage. Das schliesse auch die Bereiche der Verwaltung mit ein. Freiheitliche Rahmenbedingungen seien zudem die wichtigste Voraussetzung, damit dieser Wandel zum Vorteil der KMU ausfalle. Insbesondere in der Digitalisierung gelte der Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit: «Was nicht ausdrücklich verboten oder ge-setzlich geregelt ist, ist erlaubt.»

Zusammenfassend bezeichnete Bigler diese Forderungen als «eine Vitaminspritze, welche die Schweizer Wirtschaft gerade nach der Pandemiekrise dringend benötigt».

Internationale Positionierung

sgv-Vizepräsident André Berdoz gab zu bedenken, dass die Schweiz im Bereich Warenhandel, Investitionen, Forschung und Bildung ein interessanter internationaler Partner sei. Das biete Chancen für den weiteren Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen. So könnten bestehende Freihandelsabkommen ausgehandelt oder bestehende modernisiert werden. Für die Schweiz sei als Netto-Exporteurin auch das Vereinigte Königreich als fünftgrösste Wirtschaft interessant.

Der sgv würde es begrüssen, wenn die Schweiz eine noch aktivere Rolle in der Diplomatie und in den internationalen Gremien einnehmen würde. Wichtig sei dabei, dass die Schweizer Diplomatie die Interessen der Schweiz als oberste Maxime vor Augen habe. Das bedeute: «Gute Dienste» müssen mindestens mittelbar entsprechende Gegenleistungen oder Zusicherungen erhalten.

Die Ausgaben- und Schuldenbremse sei Teil des Erfolgsmodells Schweiz. Der Steuerwettbewerb schaffe es, die Steuern relativ niedrig zu halten und dabei die Qualität der staatlichen Dienstleistungen zu steigern.

Die Schweiz sei dabei nicht das einzige Land, das diese Elemente kenne. Eine Allianz ähnlich denkender Länder könne diese Anliegen in den internationalen Gremien platzieren und ihnen entgegengesetzte Bestrebungen blockieren.

Der sgv-Vizepräsident skizzierte zudem einen Weg, wie die Schweiz nach einem allfälligen Scheitern der Verhandlungen um das Rahmenabkommen mit der EU umgehen könnte. Dabei müsse in einem mittel- bis langfristigen Horizont gedacht werden. Der sgv fordere, dass das Freihandelsabkommen von 1972 modernisiert werde. Eine Modernisierung des FHA sei auch im Interesse der EU. Die Schweiz sei Kundin der EU, die Schweiz sei Nettoimporteurin verschiedener Länder, sie sei der neuntwichtigste Exportmarkt Deutschlands. Es sei nicht im Interesse der EU, diese Türe zuzuschlagen. Über das FHA sollte es möglich sein, Lösungen in den Bereichen Ursprungsregeln, Ursprungskumulierung, Zoll, Lieferformalitäten und Fracht zu finden sowie den freien Warenverkehr zu sichern.

Und nicht zuletzt habe die Schweiz mit der «Kohäsionsmilliarde» ein Druckmittel, das es einzusetzen gelte. Es sei auch denkbar, eine Erhöhung des Beitrages für die Binnenmarktentwicklung in Aussicht zu stellen, um der EU Kompromisse abzuringen, beispielsweise zur Sicherung der Teilnahme an den Forschungsprogrammen.

www.sgv-usam.ch/mk-20210517

Meist Gelesen