Publiziert am: 04.06.2021

«Wachsen aus eigener Kraft»

REGULIERUNGSKOSTEN – Zum Entlastungsgesetz und zur Regu­lie­rungs­bremse: sgv-Präsident Regazzi und sgv-Direktor Bigler zeigen auf, weshalb ein Preisschild für neue und die Reduktion unnötiger Regulierungen für die von KMU geprägte und von Corona gebeutelte Schweizer Wirtschaft zwingend ist.

Schweizerische Gewerbezeitung: Regulierungskosten sind fĂĽr den Schweizerischen Gewerbeverband sgv ein Kernthema. Weshalb ist diese Sache fĂĽr die KMU derart wichtig?

Fabio Regazzi: Jährlich gehen durch Regulierungskosten zehn Prozent des Schweizer Bruttoinlandprodukts (BIP) verloren. Das sind aktuell etwa 70 Milliarden Franken. Die KMU kommen für den grössten Teil dieses Betrags auf. Für sie wirken sich Regulierungskosten wie ein Fixkostenblock aus. Als Firma kann man ihn weder beeinflussen noch diese Mittel effizient einsetzen. Folglich setzt der Abbau unnötiger Regulierungskosten gebundene Mittel frei. Firmen können damit investieren und expandieren. Damit wirkt sich die Senkung unnötiger Regulierungskosten aus wie ein Wachstumsprogramm aus eigener Kraft.

Der Schweizerische Gewerbekongress hat Ende Mai 2010 in Lugano eine Resolution «Für eine Wachstumspolitik durch nachhaltige KMU-Entlastung» verabschiedet. Was hat dieser Aufruf bewirkt?

Hans-Ulrich Bigler: Seit gut zehn Jahren ist die Senkung der Regulierungskosten ein Dauerthema im Parlament. Über 50 Vorstösse sind dazu eingereicht und überwiesen worden. Mit der Resolution von Lugano hat der Gewerbeverband das Thema auf die politische Agenda gesetzt. Vor allem aber: Mit dieser Resolution hat der sgv die Verwaltung und die Politik endlich zu einer ehrlichen Diskussion über Regulierung und deren Kosten bewegt. Die aktuelle Vorlage zur Regulierungsbremse ist ein Resultat davon. Ohne «Lugano» wären wir heute nicht dort, wo wir in der Diskussion stehen.

Damals sprachen Sie von Regulierungskosten von 50 Milliarden jährlich; heute beziffern Sie diese bereits auf 70 Milliarden. Woraus setzt sich diese riesige Summe zusammen?

Hans-Ulrich Bigler: Neben dem politischen Programm hat der sgv in der Schweiz auch erstmals eine umfassende Methodologie aufgestellt, nach der die Regulierungskosten zu messen sind. Zusammen mit der Bertelsmann-Stiftung und KPMG Deutschland, und unter der wissenschaftlichen Leitung der Hochschule für Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften HSG (Universität St. Gallen), hat der sgv eine Messmethode entwickelt. Was immer in der Schweiz reguliert wird, verringert die Wertschöpfung. Demnach «klebt» das Preisschild der Regulierung am BIP, das die Wertschöpfung misst. Und wie von Fabio Regazzi erwähnt: Das generelle Preisschild beträgt geschätzte zehn Prozent. Wächst das BIP, so wachsen auch die Regulierungskosten.

Es leuchtet ein, dass ein Staat – und auch die Wirtschaft – gewisser Regulierung bedarf. Wie unterscheiden Sie denn nötige von unnötiger Regulierung?

Fabio Regazzi: Das trifft im Grundsatz zu. Doch vergessen wir nicht: In der Bundesverfassung ist der Grundsatz der Verhältnismässigkeit festgelegt. Das bedeutet, die Regulierung muss auf dem direktesten und einfachsten Weg ihre Ziele erfüllen. Leider machen wir in der Schweiz die Erfahrung, dass dieser Grundsatz noch immer oft mit Füssen getreten wird.

Wo etwa?

Fabio Regazzi: Zum Beispiel bei den Inhaberaktiengesellschaften. Weltweit wird ihre Abschaffung nirgends verlangt. Die Schweiz hat es trotzdem getan, um vermeintlichen Standards zu genügen – diese Standards waren jedoch im Finanzdepartement frei erfunden worden. Hier wurde völlig unnötig, einzig der Regulierung wegen, reguliert. Und dies zu einem sehr hohen Preis: 40 000 KMU mussten dafür die Zeche bezahlen. Deshalb muss künftig gelten: Alles, was über die Verhältnismässigkeit hinausgeht, ist als unnötige Regu­lierung zu betrachten. Und genau dagegen wehren wir uns.

Nachdem Bundesrat Johann Schneider-Ammann lange auf der Bremse stand, hat sich sein Nachfolger im WBF, der heutige Bundespräsident Guy Parmelin, der Sache angenommen. Derzeit läuft die Vernehmlassung zum Ent­lastungsgesetz und zur Regulierungsbremse. Weshalb ist es wichtig, dass sich der Staat bei der Regulierung zurückhält?

Hans-Ulrich Bigler: Das folgt aus den genannten Gründen. Regulierung generiert Kosten und wirkt sich damit wie ein Fixkostenblock auf die Unternehmen aus. Reduziert man unnötige Regulierung, erhalten Firmen mehr freie Mittel – und damit mehr Freiheit. Beides haben sie dringend nötig. Sie können es für Wettbewerb, Innovation und die Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen einsetzen. Die Schweiz verliert stetig an Wettbewerbsfähigkeit. Die Entlastung der Wirtschaft führt hier zu ­einer Trendumkehr und zu ihrer Vitalisierung. Gerade nach der Corona-Krise führt daran kein Weg vorbei.

Die neue Regulierungsbremse sieht vor, dass neue Regulie­rungen im Parlament einem qualifizierten Mehr unterstehen. Beschneiden Sie hier nicht Ihre eigenen Kompetenzen?

Fabio Regazzi: Im Gegenteil: Wir strukturieren damit die parlamentarische Entscheidungsfindung. Die Schweiz hat sehr positive Erfahrungen mit der Ausgaben- und mit der Schuldenbremse gemacht. Der gleiche Mechanismus kommt bei der Regulierungsbremse zum Tragen. Die Kosten von Vorlagen werden als «Preisschild» transparent ausgewiesen. Das Parlament muss dann eine Abwägung machen, ob es die entsprechende Vorlage zu diesem Preis «kaufen» will. Wenn es den Nutzen einer Vorlage grösser gewichtet als ihren Preis, kann es die Vorlage nach wie vor annehmen; wenn nicht, dann wird sie abgelehnt. Das Parlament verfügt also über mehr qualifizierte Informationen – und damit über mehr Kompetenzen.

Den Abbau von Regulierungen bezeichnen Sie als «Fitnesskur für die Schweizer Wirtschaft». Wie ist der Ausdruck zu verstehen?

Fabio Regazzi: Wenn Unternehmer sich immer stärker mit administrativem Kram auseinandersetzen oder diesen gegen Bezahlung an Spe­zialisten auslagern müssen, dann kostet sie dies unnötig Substanz. ­Dadurch werden Kapazitäten und finanzielle Mittel vom Kerngeschäft abgezogen. Um die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer KMU nicht weiter zu schmälern, müssen wir von solchen Leerläufen dringend wegkommen. Schaffen wir das – und das müssen wir –, so werden die ­betroffenen Unternehmen auf einen Schlag fitter. Deshalb spreche ich hier von einer Fitnesskur.

Welche Erwartungen hat der sgv nun an die Politik – und im Speziellen an Bundespräsident Parmelin –, was neue Regulie­rungen betrifft?

Hans-Ulrich Bigler: In den vergangenen Jahren wurde viel über Regulierung gesprochen. In den Sonntagsreden wurde – ganz besonders vor Wahltagen – die Wichtigkeit der KMU betont, ihre Bedeutung für das Erfolgsmodell Schweiz, für Arbeitsplätze und Wohlstand. Jetzt geht es darum, diesen Worten endlich Taten folgen zu lassen. Die Grundlage dazu ist mit den beiden Vorlagen, die heute in der Vernehmlassung sind, gelegt.

Fabio Regazzi: Ab sofort muss es darum gehen, die Entlastung der Wirtschaft – und hier insbesondere der KMU, die bekanntlich 99,8 Prozent der Schweizer Unternehmen ausmachen, 70 Prozent der Arbeitsplätze stellen und für 60 Prozent der Wertschöpfung stehen – ganz konkret umzusetzen. Die nötigen Mittel dazu haben wir heute in der Hand. Bundesrat und Parlament müssen sie nun einsetzen. Nach der grössten Krise der vergangenen 50 Jahre sind sie dies der Schweiz und ihren Unternehmen – insbesondere den KMU – schuldig.

Interview: Gerhard Enggist

www.sgv-usam.ch/regulierung

DER WERT DER KMU

«Wir wollen», schrieb Bundesrat Guy Parmelin in seinem Vorwort zum 2019 erschienenen Buch «Der Wert der KMU», «gemeinsam mit den interessierten Unternehmen und insbesondere auch dem Schweizerischen Gewerbeverband sgv weiterhin daran arbeiten, dass unsere KMU ihre Chancen nutzen können und Kosten und Zeitaufwand für Bürokratie sinken: mehr Zeit für das Kerngeschäft – weniger Aufwände für Regulierungen.»

2021 ist Parmelin nicht nur Wirtschaftsminister, sondern auch Bundespräsident. Und sgv-Direktor Hans-Ulrich Bigler und sein Stellvertreter Henrique Schneider – die Autoren des Werks vom «Wert der KMU» – setzen sich nach wie vor dafür ein, dass KMU aus eigener Kraft wachsen können: dank einer Senkung unnötiger Regulierungskosten. Dass diese nun endlich ein Preisschild erhalten und dadurch sinken sollen, ist dem hartnäckigen Einsatz des sgv und seiner Unterstützer in Wirtschaft und Politik zu verdanken.En

«Der Wert der KMU». 124 Seiten.
Schweizerischer Gewerbeverband sgv
(Hrsg.). ISBN 978-3-033-07442-2.

www.sgv-usam.ch/buch-bestellen

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