Publiziert am: 16.09.2022

Wer ist eigentlich diese Wirtschaft?

Ist sie gross oder klein? Arm oder reich? Und ist sie überhaupt weiblich? Oder wird sie nicht eher – wenn sie wieder als Feindbild herhalten muss – als Männerkollektiv dargestellt? «Die Wirtschaft» macht jetzt, wo der Verteilkampf um unsere knapp werdende Energie losgetreten ist, wieder von sich reden. Kaum war die Möglichkeit von Sparmassnahmen angekündigt, machten linke Kreise mit routinierter Forschheit klar, dass allfällige Rationierungen von Strom und Gas zunächst von der Wirtschaft getragen werden müssten. Es komme nicht in Frage, dass Herr und Frau Schweizer den Winter in ihren kalten, dunklen Wohnungen verbringen müssten, während «die Wirtschaft» ohne Einbussen weiter … naja, weiterwirtschaften dürfe.

Diese vorauseilende Forderung hat zum Ziel, das Bild einer mächtigen und ungerechten Elite heraufzubeschwören, die sich selbstherrlich an unseren verbleibenden Gasreserven und unseren Stauseen bedient, während Haushalte der Energiekrise zum Opfer fallen. Es suggeriert auch, dass «die Wirtschaft» aus energieintensiver – und somit dreckiger – Tätigkeit besteht, die aus Selbstzweck agiert. Aber wer ist eigentlich diese Wirtschaft, und wem dient sie? Sind wir nicht alle, jede und jeder Einzelne von uns, Teil davon? Die künstliche Unterscheidung zwischen Wirtschaft und Privathaushalten hat mit der gelebten Realität nichts zu tun.

Mensch und Wirtschaft als Gesamtsystem

Laut Duden bedeutet der Begriff «Wirtschaft» die Gesamtheit der Einrichtungen und Massnahmen, die sich auf Produktion und Konsum von Wirtschaftsgütern beziehen. Sie umfasst also alles, was dazu gehört, dass die Menschen etwas herstellen oder tun, wovon sie leben können. Sowohl Angebot als auch Nachfrage hängen von Menschen ab. Reduziert oder verbietet man also auf einer Seite die Produktion resp. das Angebot, so wird den Menschen auf der anderen Seite nicht nur ihre Arbeit entzogen, sondern es fehlen ihnen auch die Güter des täglichen Bedarfs.

Das Backen von Brot, das Kühlen von Milch, das Herstellen von Medikamenten – all das braucht Energie. Es ist den Menschen nicht gedient, wenn ihre Wohnung zwar auf 25 Grad beheizt ist, sie aber keine Milch im Kühlschrank und kein Brot auf dem Teller haben. «Die Wirtschaft» und «die Haushalte» sind ein Gesamtsystem: aufeinander angewiesen und einander verpflichtet. Wir alle sind Wirtschaft. Mit einem fehlgeleiteten Verständnis von Verteilgerechtigkeit bestraft man mittelfristig diejenigen, die man eigentlich schonen wollte.

Leuchtreklamen und Katzenvideos

Gewiss, es gibt es viele Bereiche, bei denen Unternehmen – aber auch die öffentliche Hand – Energie einsparen können, ohne dass es zu schmerzhaften Einbussen kommt. In einer Mangellage fällt es nicht schwer, auf nächtliche Leuchtreklamen in leeren Strassen zu verzichten oder auf die Beheizung von entseelten Büroflächen, wenn alle im Homeoffice sind. Es ist deshalb zu hoffen, dass die Dringlichkeit der drohenden Massnahmen unsere Unternehmen dazu bewegen, lange vernachlässigte Effizienzmassnahmen endlich zu realisieren. Davon profitieren nicht nur sie selbst und die Haushalte, sondern auch das Klima.

Aber seien wir doch ehrlich: Auch in privaten Haushalten besteht erhebliches Einsparpotenzial. Dass im Winter die Fenster aufgekippt bleiben, weil es in der Wohnung zu warm ist, ist eigentlich absurd. Und das stundenlange Streamen von Katzenvideos auf mehreren Endgeräten im selben Haushalt frisst schweizweit enorme Strommengen, die man sinnvoller einsetzen könnte.

Letztlich muss uns allen klar sein: Eine Energiekrise werden wir nur dann schadlos überstehen, wenn wir ein gemeinsames Verantwortungsgefühl für unsere Ressourcen entwickeln und unsere Gesellschaft als System betrachten, in dem Mensch und Wirtschaft füreinander, nicht gegeneinander, arbeiten.

*Die Zürcher GLP-Nationalrätin Judith Bellaiche ist Geschäftsführerin von Swico, dem Wirtschaftsverband der ICT- und Onlinebranche.

www.judithbellaiche.ch

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