Publiziert am: 04.11.2022

Die Meinung

Wir beüben uns selbst

Der Schweizerische Gewerbeverband sgv kämpft gegen Regulierungskosten. Das ist selbstverständlich gut und volkswirtschaftlich notwendig. Aber das nützt nichts, wenn sich Private selbst bürokratische Hürden aufbauen.

Einige Beispiele dazu: Die SBB spielt gerne Unternehmen. Sie preist sich als innovationsfreundlich an und verspricht ihren Kunden ein einfaches Reiseerlebnis. Wenn man ein Ticket am Automaten kauft, stimmt das sogar mit der Einfachheit. Aber wehe, man löst sein Billett über die App. Nicht nur muss man gegenüber dem Programm alle möglichen Daten offenlegen. Sondern der Kontrolleur überprüft sogar das Geburtsdatum des Passagiers. Warum? Selbstbeübung.

Vor Kurzem besuchte ich ein KMU mit 24 Angestellten. Es handelt sich um ein Unternehmen, das keine sensitiven Güter herstellt. Der freundliche Empfang fragt nach meinem Namen für die Meldung meines Besuchs. Das ist normal. Absurd wird es, wenn der gleiche Empfang mich nach einer ID fragt. Warum soll ein Unternehmen meine ID für einen Besuch überprüfen wollen? Selbstbeübung.

Fachhochschulen und Universitäten schicken ihre Eleven los, Umfragen zu machen. Sie nehmen mit den Interviewpartnern Kontakt auf, machen mit ihnen Termine ab. Neuerdings müssen sie aber auch die Einwilligung des Gesprächspartners mit Unterschrift einholen. D. h., die Person, die Ja zum Interview gesagt und für einen Termin zugesagt hat, muss dann auch unterschreiben, dass dies wirklich ihrem Willen entspricht. Warum? Selbstbeübung.

Der Schulthess-Verlag publiziert verschiedene Zeitschriften. Er lädt Autoren ein, Beiträge zu verfassen – selbstverständlich unbezahlt. Vor der Publikation verlangt der Verlag von den Autoren, ein langes, kompliziertes Formular auszufüllen und zu unterschreiben. Man muss sich das vorstellen: Der Autor verbringt Stunden mit einem Artikel und muss dann bezeugen, dass sein Artikel seinem Willen entspricht? Warum? Selbstbeübung.

Diese Beispiele illustrieren einen gefährlichen Trend. Wir beüben uns selbst mit Bürokratie. Das passiert immer mehr und überall. Es passiert auch unterschwellig; gerade deshalb erdulden es die Leute überhaupt. Das ist das Gefährliche: Auch die staatliche Regulierung ist oft unterschwellig. Einzelne bürokratische Leerläufe erscheinen harmlos. Es ist die Summe aller Vorschriften und aller Sachen, die man tun muss, um sie zu erfüllen, welche sich erdrückend auswirken.

Die Bremse der Bundesregulierung ist das Kerngeschäft des sgv. Das macht er auch mit Erfolgen und Resultaten. Bald kommen sogar ein Unternehmensentlastungsgesetz und die Regulierungskostenbremse in die politische Beratung. Doch es nützt nichts, wenn staatliche Regulierungskosten abgebaut werden und dafür private Regulierungskosten in die Höhe schnellen. In allen hier erwähnten Beispielen entstehen Kosten: zum Beispiel die Arbeit des Kontrolleurs, die Zeit fürs Ausfüllen der Formulare und in einigen Fällen das Einholen der Information. Im Übrigen gehen alle diese privaten Regulierungskosten auf Freiwilligkeit zurück. Der Staat zwingt niemanden dazu, bei Firmenbesuchen IDs zu kontrollieren oder den Handlungswillen neben der Handlung festzuhalten. Das sind alles private Regulierungs-erfindungen. Das ist alles Selbstbeübung.

Der Abbau von staatlichen Regulierungskosten darf nicht mit dem Aufbau privater bürokratischer Leerläufe einhergehen. Wir müssen den Mut haben, den Umgang miteinander zu vereinfachen. Wir müssen aufhören, uns selbst zu beüben.

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