Publiziert am: 09.12.2022

Den Markt verstehen

ENERGIE – Braucht es eine Energieexpertise für die Führung von KMU? Ganz klar: nein. Aber die Führung muss wohl die Schnittstelle zwischen Strategie, Aufsicht und Energie steuern. Dafür braucht es Kenntnisse und Fähigkeiten.

Gross ist der Schock, wenn in einem KMU eine Stromofferte eintrifft, deren Preis 1600 Prozent über dem aktuellen liegt. Diesen Schock haben in den vergangenen Wochen viele Unternehmen erlebt. Wenn sie jetzt im «freien» Strommarkt einkaufen und derzeit Verträge für die kommenden Jahre abschliessen müssen, ist der Schock der Normalfall. Kaum ein Unternehmen erhält Offerten mit einem Preisanstieg, der kleiner als eine Vervierfachung ausfällt. Aber auch Unternehmen in der Grundversorgung sehen sich mit happigen Preisanstiegen konfrontiert. Die Tarife steigen für sie im Durchschnitt um 27 Prozent. Das ist zwar nicht der gleiche Schock wie im «freien» Markt. Happig ist es allemal. Um es vorwegzunehmen: Diese Preiserhöhungen waren für einzelne Unternehmen nicht vorauszusehen. Zudem ist in der überwältigenden Mehrheit der Firmen der Strom kein strategisches Asset. Das heisst, sein Einkauf wird nicht strategisch, etwa im Verwaltungsrat, thematisiert. Und überhaupt: Der Entscheid, Strom im «freien» Markt zu beziehen oder in der Grundversorgung zu bleiben, ist eigentlich ein operativer. Aber auch der operative Entscheid ist nicht zu kritisieren. Wer entschieden hat, in den «freien» Markt zu gehen, hat lange Zeit von günstigen Preisen profitiert. Wer in der Grundversorgung geblieben ist, dem ging es auch nicht schlecht. Erst im zweiten Quartal dieses Jahres fingen die Preissignale an, auch für Unternehmen wahrnehmbar zu werden. Das soll keine allgemeine Entschuldigung der Firmen sein. Aus der grundsätzlichen Unvorhersehbarkeit der aktuellen Lage lässt sich nicht folgern, man sollte generell auf Kenntnisse in Sachen Strombeschaffung verzichten. Der Link zur Unternehmensführung ist wie folgt: Während das Management die Beschaffungsmärkte kennen und überprüfen sollte, ist es an der Führung zu entscheiden, wie man mit Risiken in diesen Märkten umgeht. Dafür braucht sie ein Grundwissen über die Funktionsweise dieser Märkte.

«Freier» Markt ist nicht frei

Dasselbe gilt für Strom. Grundsätzlich wird jeder Haushalt – auch Unternehmen sind Haushalte – vom lokalen Versorger bedient. Das nennt man umgangssprachlich Grundversorgung. Der Strompreis darin besteht aus einem Energie-, einem Netz- und einem Abgabenanteil. Dabei können stromintensive Unternehmen von einigen Abgaben befreit werden. In der Grundversorgung werden die Preise von der eidgenössischen Elektrizitätskommission Elcom auf der Basis der Gestehungskosten plus eines angemessenen Gewinns für die Stromunternehmen jeweils auf das nächste Jahr gesetzt. Gemäss der vom Volk angenommenen Energiestrategie 2050 hätte sich der Strompreis schon in den letzten Jahren stets verteuern müssen. Selbst mit den happigen Tariferhöhungen für 2023 verbleibt der Strompreis unter den Modellrechnungen der Energiestrategie. Unternehmen mit mehr als 100 000 Kilowattstunden Stromverbrauch im Jahr können freiwillig die Grundversorgung verlassen und sich im «freien» Markt mit Strom eindecken. Einmal frei, immer frei – so der Grundsatz. Firmen, die in den Markt gewechselt sind, können nicht in die Grundversorgung zurückkehren.

Im «freien» Markt können sich die Unternehmen zum jeweils geltenden Marktpreis, Spot genannt, ein-decken. Sie können auch mit einzelnen Anbietern Verträge auf mehrere Jahre abmachen. Diese Firmen bezahlen den Spot- oder Termingeschäftspreis für die Energie je nach dem Stand der Marktpreise. Zusätzlich müssen sie noch für das Netz bezahlen. Diese Tarife werden von der Elcom gemacht. Wichtig ist: Der «freie» Strommarkt ist jedoch kein wettbewerblich freier Markt, sondern ein Oligopol. Der Zugang zum Markt als Anbieter ist besonders schwer. Die wenigen, die es gibt, behalten eine jeweils gehörige Marktmacht. Kommt es zu Verknappungen, ist es eher unwahrscheinlich, dass man als Kunde überhaupt mit einer Offerte bedient wird. Das heisst, in einer Verknappungssituation ist man beim bisherigen Lieferanten gebunden und muss dessen Preise akzeptieren.

Was kann eine KMU-Führung mit dieser Information anfangen? Ihre Grundfunktion ist, die unternehmerischen Ziele zu definieren und deren Erreichung zu steuern. Unternehmensführung ist die Kombination von Strategie, Umsetzung und Aufsicht. Das gilt bei der Produktentwicklung, im Personalbereich und in den Beschaffungsmärkten – also auch im Markt für Strom. Eine regelmässige Überprüfung des Beschaffungsmarkts Strom ist dabei geboten. Natürlich ist ein Kriterium in diesem Prozess, wie wichtig das Beschaffungsgut für das eigene Produkt ist. Doch andere Kriterien sollen auch angewendet werden: die Marktstruktur des Beschaffungsmarktes, Marktmacht der Anbieter oder ihr Verhalten in Zeiten von Engpässen.

Sorgfältig überprüfen

Die sorgfältige Überprüfung des Beschaffungsmarktes Strom durch das Management endet in einer Übersicht quantifizierter Risiken. Zu den Steuerungsaufgaben der Unternehmensführung gehört die Aufstellung von Plänen, wie mit Risiken in Beschaffungsmärkten umzugehen ist. Im Risikomanagement spricht man von Absorption, Überwälzung, Verkleinerung und Eliminierung von Risiken. Man kann grundsätzlich bereit sein, diese Risiken zu absorbieren. In diesem Fall braucht man eine dafür angelegte Kapitalreserve. Man kann auch versuchen, sie zu überwälzen. In diesem Fall müsste man langfristige Verträge mit Stromlieferanten eingehen. Eine Möglichkeit der Risikoverkleinerung ist, in der Grundversorgung zu verbleiben. Eine Eliminierung des Versorgungsrisikos mit Strom kann man nur erreichen, wenn man selber Strom produziert und sich an die Regeln der Produktion hält. Die Expertise, die von der Führung verlangt werden kann, ist also: Sie muss die praktischen Prozesse darauf ansetzen, die Beschaffungsmärkte – und zwar alle – regelmässig zu überprüfen, daraus Risikoprofile zu erarbeiten und diese Risiken zu quantifizieren. Es ist dann eine Aufgabe der Führung, zu entscheiden, wie mit dem Risiko dieser Märkte umgegangen werden soll und Mittel für die Umsetzung dieses Entscheids zu sprechen.

Doch wie kann sich heute eine Firma wehren, wenn der Schock eintritt und die Stromofferte für das nächste Jahr 500 Prozent höher liegt als der aktuelle Preis? Die ehrliche Antwort ist: Man kann nichts tun. Unternehmen im «freien» Markt können sich zu einer Verbrauchsgemeinschaft zusammenschliessen. Das ist eine neue juristische Person, und diese könnte in der Grundversorgung verbleiben. Aber hier gelten Vorschriften. Diese Gemeinschaften müssen einen minimalen Anteil des Eigenbezugs selbst herstellen. Auf der Seite des Verbrauchs führen seine Einschränkungen in der kurzen und mittleren Frist zu weniger Kosten. Energieverbrauchsreduktionen im Rahmen eines Programms der Energieagentur der Wirtschaft verbinden Kosteneinsparungen mit Wirtschaftlichkeit. Sie können auch zur Befreiung von einigen Abgaben führen. Die Unternehmensführung eines KMU braucht also keine spezielle Expertise in Strom oder Energie. Ihre übliche Führungsfunktion greift auch in Zeiten ansteigender Strompreise. Damit sie aber greift, muss man im Voraus schon systemische Entscheide getroffen haben. Wer das noch nicht getan hat, kann die aktuelle Situation als Chance sehen und diese Entscheide jetzt schon einleiten. Letztlich geht es darum, die Risiken besonderer Beschaffungsmärkte zu verstehen und die Antworten darauf zu priorisieren. Das ist eine ureigene Führungsaufgabe.

Henrique Schneider,

stv. Direktor sgv

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