Publiziert am: 09.12.2022

«Falsches Image ist hinderlich»

FRÉDÉRIC BORLOZ – «Eine Berufs­aus­bildung ist für junge Menschen ein Schlüssel zu einer soliden beruflichen Zukunft», sagt der für die Berufs­bildung zuständige Waadtländer Staatsrat. Entsprechend will er das Image der Berufslehre fördern – auch über den Kanton hinaus.

Schweizerische Gewerbezeitung: Sie sind seit fünf Monaten Regierungsrat und Bildungsdirektor des Kantons Waadt. Welchen Stellenwert hat die Berufsbildung – und insbesondere die Berufslehre – für die Wirtschaft in Ihrem Kanton?

Frédéric Borloz: Auf persönlicher Ebene ist die Berufsausbildung für junge Menschen ein Schlüssel zu einer soliden beruflichen Zukunft. Ein EFZ in der Tasche zu haben, verringert das Risiko, arbeitslos zu werden, erheblich. Der Kanton Waadt ist ein echtes Ausbildungsland mit über 175 Berufen, die in der dualen Ausbildung angeboten werden. Die Lehre ermöglicht es auch, eine Berufsmaturität zu absolvieren und anschliessend eine höhere Fachschule, die EPFL oder die Universität zu besuchen. Dies ist eine wichtige Grundlage für die finanzielle Unabhängigkeit und ein Sprungbrett für den weiteren Weg.

Auf einer eher makroökonomischen Ebene ist die Berufsausbildung eine Antwort auf die grossen Herausforderungen der Energiewende, des digitalen Wandels und der Alterung der Gesellschaft. In diesen Berufen herrscht ein akuter Mangel an qualifizierten Arbeitskräften. Die Lehrlingsausbildung ist eine der wichtigsten Lösungen, damit der Arbeitsmarkt die Arbeitskräfte und Projektträger finden kann, die er benötigt.

Nur gerade einer von fünf Jugendlichen im Kanton Waadt wählt den direkten Weg in die Berufswelt. Sind es die Eltern, die Schule, eine falsche Vorstellung von der Berufswelt oder der Einfluss der elitären Vision von Bildung, die aus der Grande Nation herüberstrahlt: Woher kommt das schlechte Image der Berufslehre?

Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus all dem. Wir stellen fest, dass die Lehre allzu oft die zweite Wahl für jene Jugendliche ist, die nach der Pflichtschule nicht wissen, was sie tun sollen. Manche wählen das Gymnasium als zweitbeste Lösung. Da sie in den ersten Jahren mit Misserfolgen konfrontiert sind, kehren sie dann zum beruflichen Weg zurück. Andere verlieren sich in den Übergangsmassnahmen. Manchmal ist es auch der Einfluss der Eltern, die die Lehre nicht als das Sprungbrett sehen, das sie in der Schweiz ist. Mangelnde Information, falsches Image: Dies benachteiligt den Weg der Berufsbildung.

Nun machen Sie sich daran, das Image der Lehre aufzupolieren. Wie wollen Sie dieses Ziel erreichen?

Schüler, Eltern und Unternehmen besser informieren, direkte Übergänge zum EFZ und EBA fördern und sich mit den Berufskreisen zusammenschliessen, um Ausbildungen zu Berufen zu entwickeln, die den aktuellen Herausforderungen (Gesundheit, Digitalisierung, Energiewende) gerecht werden. Dies sind die drei Schwerpunkte des Plans, den ich im November vorgestellt habe. Zu den wichtigsten Massnahmen gehören die Einrichtung eines Hauses der Berufe, der Start einer Kampagne zur Förderung der Lehrlingsausbildung über soziale Netzwerke und eine Reform der Strategie der Berufsberatung. Der Berufsberatung kommt auf allen Ebenen eine wichtige Rolle zu, vor allem aber in der entscheidenden Phase am Ende der Schulzeit

Welches sind die wichtigsten Zielgruppen, die Sie erreichen wollen?

Diese Informationsarbeit richtet sich zwangsläufig an eine Vielzahl von Zielgruppen, da wir das Bild der Berufsausbildung, das sich in den letzten Jahren verfestigt hat, verändern wollen. Dabei denken wir zunächst an die Hauptbetroffenen: die Jugendlichen im Alter von 14 bis 15 Jahren. Wir werden sie besser informieren und sie ermutigen, Betriebspraktika zu absolvieren, auch die Jugendlichen des vorgymnasialen Bildungswegs. Dann sind da noch die Eltern, die bei der Wahl der Ausbildung unumgängliche Meinungsbildner sind. Auch unsere Lehrerinnen und Lehrer, die in jeder Schule einen Referenten für das, was wir als «Annäherung an die Berufswelt» bezeichnen, haben. Sie müssen diesen Zweig in den Vordergrund stellen und Projekte in dieser Richtung unterstützen. Wir werden acht weitere einstellen, einen pro Schulregion im Kanton, um die Verbindung zum lokalen Wirtschaftsgefüge herzustellen. Und ich vergesse auch nicht die Unternehmen, mit denen wir zusammenarbeiten werden. Wir möchten sie dazu bewegen, 15-jährige Jugendliche einzustellen und nicht zu warten, bis sie 18 oder 20 Jahre alt sind. Wir werden ihnen helfen, diese Jugendlichen zu betreuen, und Unternehmensnetzwerke fördern, um ihre Ausbildungskapazitäten zu bündeln. Schliesslich möchten wir gemeinsam mit den Branchenverbänden auch bestimmte Ausbildungsgänge attraktiver machen, insbesondere solche, die mit der Energiewende zusammenhängen.

«Der gymnasiale Weg ist wertvoller als die duale Berufsbildung»: Wie wollen Sie es schaffen, diese einseitige Mentalität in vielen Köpfen zu verändern?

Das Waadtländer Gymnasium ist erfolgreich und es geht ihm gut; darauf sind wir stolz! Ich stelle Gymnasium und Berufsausbildung nicht in einen Gegensatz, denn unsere Wirtschaft braucht beides. Das Image der Berufsbildung zu ändern, wird viel Zeit in Anspruch nehmen und ist keine Aufgabe, die sich in einer Legislaturperiode erledigen lässt. Aber irgendwo muss man anfangen, und wir sind entschlossen, diese Wende einzuleiten. Dazu gehört viel Aufklärung und eine Zusammenarbeit mit Familien, Unternehmen, Branchenverbänden und der Schule. Wir können es nur gemeinsam schaffen!

Zudem wollen Sie ein «Haus der Berufe» einrichten. Was muss man sich darunter vorstellen?

Wir haben im Jahr wertvolle Momente, die die Berufsbildung hervorheben, wie die Berufsmesse oder die Tage der offenen Tür unserer Berufsschulen, die viele Menschen anziehen. Aber was ist mit dem Rest des Jahres? Es ist schwierig, sich ausserhalb von Praktika darüber klar zu werden, was dieser oder jener Beruf ist, und genaue Informationen zu erhalten. Das Haus der Berufe wird diesem Bedürfnis entsprechen. Es wird ein ständiges Schaufenster sein; ein spezieller Ort, an dem man Antworten und Verbindungen zu den Berufsverbänden findet.

Was können die Unternehmen selbst tun, um zu mehr Lehrlingen zu kommen?

Diese Frage muss man ihnen direkt stellen; viele von ihnen leisten in diesem Bereich viel Arbeit, und das begrüsse ich. Der Staat und das Bildungsdepartement müssen die Rahmenbedingungen schaffen, zuhören und den Jugendlichen ebenso wie den Unternehmen helfen, sich um das gemeinsame Projekt der erstmaligen Integration in den Arbeitsmarkt zu kümmern. Wir wünschen uns, dass sie keine Angst davor haben, sich als Ausbildungsbetrieb zu engagieren, dass sie darauf bedacht sind, diese Jugendlichen gut auszubilden und ihre Berufe hervorzuheben.

Verglichen mit der Deutschschweiz – hier machen zwei von drei Jugendlichen eine Lehre – hinkt die duale Berufsbildung nicht nur in der Waadt, sondern in der Westschweiz generell hinterher. Wie können Sie Ihre Amtskollegen in den anderen Kantonen überzeugen, bei dieser für die Wirtschaft wichtigen Kampagne mitzuziehen?

Nicht alle Kantone sind mit der gleichen Situation konfrontiert. Dennoch können wir diese Anliegen gemeinsam nach Bern tragen. In der Berufsbildung geht es auf Bundesebene darum, mit den Organisationen der Arbeitswelt zusammenzuarbeiten, um die duale Ausbildung attraktiver zu machen. Wir können zum Beispiel die Art und Weise der Ausbildung überdenken, mit gemeinsamen Kursen für bestimmte Studiengänge und Spezialisierungen, die danach kommen. Wir haben einige Ideen. Wenn wir andere Kantone in diesen Ansätzen miteinbeziehen können, werden wir mehr Gewicht haben.

Ihr Departement war seit Jahrzehnten eine Hochburg der Linken. Wie wollen Sie es schaffen, wieder einen vertrauensvollen Kontakt zu den KMU und den Berufs-verbänden herzustellen?

Die Schule muss sich meiner Meinung nach aus allen politischen Erwägungen heraushalten. Stattdessen muss sie auf die Herausforderungen der Gesellschaft reagieren, und die Aufwertung der Berufsausbildung ist eine Antwort auf diese Herausforderungen. In den letzten Jahren wurde einiges getan; das begrüsse ich. Jetzt wollen wir richtig Gas geben, eine Dynamik schaffen und Ergebnisse erzielen.

Sie haben das Departement für Ausbildung und Jugend (DFJ) in Departement für Ausbildung und Berufsbildung (DEF) umbenannt. Was war Ihre Absicht hinter dieser Namensänderung?

Wir sind für die Ausbildung junger Menschen verantwortlich, vom Kindergarten bis zum Doktoranden, und die gesamte Kette und alle Wege sind in meinen Augen gleich wichtig. Der Weg der Berufsbildung leidet heute unter einem Mangel an Wertschätzung, obwohl er so viele Türen öffnet. Die berufliche Bildung in den Namen des Departements aufzunehmen, ist ein kleiner Beitrag, um ihr den Platz zu geben, der ihr zusteht. Die Tatsache, dass Sie mir heute diese Frage stellen, gibt mir übrigens die Gelegenheit, daran zu erinnern – und das ist doch schon ein Schritt nach vorn, oder?

Interview: François Othenin-Girard

www.fredericborloz.ch

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