Publiziert am: 17.02.2023

75 Jahre AHV, 50 Jahre drei Säulen

SOZIALWERKE – Das Dreisäulensystem ist organisch aus der sozialen Verantwortung des Arbeitgebers gewachsen, sagt Sozialversicherungsexperte Werner C. Hug*. Soll das bis anhin erfolgreiche Dreisäulenkonzept weitergeführt werden, kann dies nur über die Rückführung der sozialen Verantwortung an die Unternehmer geschehen.

Entgegen der Theorie von Karl Marx haben die Firmeninhaber in der Schweiz ihre Arbeiter nicht ausgebeutet. Schon früh in der Epoche der Industrialisierung haben sie, getreu den früheren Regeln der Zünfte, Hilfskassen für ihre Arbeiter gegründet, heute Wohlfahrtsfonds, deren Gelder sie bei Krankheit, Invalidität oder Tod verwendet haben. Daraus sind Pensionskassen entstanden, z.B. die BLVK. Die Eidgenossenschaft hat als erste in Europa ein Gesetz zum Schutz der Arbeiter erlassen (1877). Danach haben die damaligen Freisinnigen in Parlament und Regierung auch ein Kranken- und Unfallversicherungsgesetz in Kraft gesetzt (1890).

«Sorge tragen zum Personal»

Unter diesem Motto der Arbeitgeber haben Bundesrat und Parlament vor bald 100 Jahren auch die Verfassungsgrundlage zur Altersvorsorge (AHV) gegründet. Der Artikel in der Bundesverfassung (BV) entsteht nicht zuletzt im Gefolge des Generalstreiks 1918, der die Bevölkerung erschütterte. Das dazugehörige Gesetz wird allerdings in einer Referendumsabstimmung von Seiten konservativer Kreise abgelehnt. Der Kampf gegen den Pauperismus, die Armut, sei nicht Sache des Bundes, argumentierten sie.

Als die Soldaten im zweiten Weltkrieg an der Grenze standen und die Frauen ohne die Löhne ihrer Männer zu Hause bleiben mussten, entsteht dringender Handlungsbedarf. Der freisinnige Bundesrat Walther Stampfli baut auf den bestehenden Vereinigungen der Branchen und Berufe auf und erlässt in Eile eine Lohn- und Verdienstersatzordnung, heute Erwerbsersatzordnung (EO). Seither erhalten die Soldaten auch während ihres Militärdienstes ihren Lohn über die Verbandsausgleichskassen. Der zweite Anlauf zum AHV-Gesetz gelingt, weil wiederum die Basis der Altersvorsorge über die bestehenden Verbände gelegt wird. Wer nicht in einer Berufsgruppe vereinigt ist, für den erfolgen Beitrags- und Leistungszahlungen über kantonale Stellen.

Idee zu Drei-Säulen-Konzept

Mit florierender Wirtschaft fliessen Beitragszahlungen und die Einnahmen der Tabak- und Alkoholsteuer. Ab 1957 können die Frauen bereits mit 63 in Rente gehen. Mit der Wahl von Hans-Peter Tschudi in den Bundesrat eröffnet sich eine neue Ära. Nach vier Jahren im Amt senkt er das Frauenrentenalter auf 62, und die Renten werden um 80 Prozent erhöht. Das führt unmittelbar zu Mehrausgaben, was zu höheren Bundesbeiträgen und zu einer Anhebung des Beitragssatzes von 4 auf 5,2 Prozent führt. Da die Wirtschaft in den 1960er-Jahren auf Hochtouren läuft, kann dies getragen werden. Wohlweislich hat der SP-Bundesrat aber auch zur Sicherung der Existenz Ergänzungsleistungen (EL) eingeführt, und er lässt die Idee zu einem Drei-Säulen-Konzept erarbeiten.

Die Volksinitiative der kommunistischen Partei der Arbeit verlangt eine staatliche Volkspension. Gewerkschaften und Bürgerliche antworten darauf mit weiteren Volksinitiativen. Daraus resultiert ein einheitlicher Gegenentwurf, das Drei-Säulen-Konzept. 1,5 Millionen lehnen die Volkspension ab, 1,4 Millionen stimmen der bundesrätlichen Vorlage zu. Damit wird die privat durchgeführte berufliche Vorsorge (2. Säule) zusammen mit der AHV (1. Säule) und der Selbstvorsorge (3. Säule) in der Bundesverfassung verankert. Wegen der Öl- und Wirtschaftskrise, Debatten um Finanzierbarkeit, Leistungs- oder Beitragsprimat, Sicherheit dauert die Gesetzgebung zur 2. Säule über zehn Jahre.

In den Artikeln 111 bis 113 BV steht nun klar und deutlich, dass der Bund mit der 1. und 2. Säule für eine «ausreichende Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge sorgt». Dabei soll die AHV mit Renten den «Existenzbedarf angemessen decken». «Personen, deren Existenzbedarf durch AHV-Leistungen nicht gedeckt sind, werden Ergänzungsleistungen ausgerichtet.» Die berufliche Vorsorge, die im BVG geregelt wird und die in einem Rahmengesetz ein Obligatorium und ein Überobligatorium enthält, soll «die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise ermöglichen». Darüber hinaus muss der Bund dafür sorgen, dass «AHV und berufliche Vorsorge ihren Zweck dauernd erfüllen können». Die Selbstvorsorge (Säule 3a ) wird dem BVG angehängt und in einer Verordnung geregelt.

Vergleichsweise unübertroffen

Heute beträgt die AHV-Mindestrente 1225 Franken, und die Maximalrente das Doppelte. Wer 44 Jahre lang AHV-Beiträge einbezahlt hat, erhält die Mindestrente oder, je nach Einkommen, eine Rente dazwischen. Beiträge von Einkommen über 88 200 Franken generieren keine höheren Renten. Die AHV-Rente ist auf 2450 Franken begrenzt.

Da das Obligatorium der beruflichen Vorsorge erst 1985 eingeführt wurde, wird erst der Jahrgang 1960 mit der Pensionierung im Jahre 2025 voll erfasst. Das bei der Einführung gesetzte Ziel, dass 1. und 2. Säule mindestens 60 Prozent des letzten versicherten Lohnes von 88 200 Franken erreichen sollen, wird heute übertroffen. 2021 betragen die Neurenten von 1. und 2. Säule im Durchschnitt aller Schweizer Männer 4667 und aller Schweizer Frauen 3422 Franken. Für verheiratete Schweizer Paare ergibt das ansehnliche Monatsrenten, was im Vergleich zum Ausland unübertroffen ist.

In der 1. Säule beziehen wegen der internen Umverteilung und der externen Finanzierung 92 Prozent der Rentner mehr Geld aus der AHV, als sie mit Beiträgen einbezahlt haben (Umlageverfahren). Demgegenüber spart in der 2. Säule jeder für sich selber mit eigenen und Arbeitgeberbeiträgen sowie Zins und Zinseszinsen auf sein eigenes Konto. Daraus entsteht das Altersguthaben. Multipliziert mit dem Umwandlungssatz resultiert die Rente.

Beiträge ab 1975 laufend erhöht

Die Revision des Eherechts (1988) spiegelt die Veränderung in Gesellschaft und Wirtschaft. Alleinerziehende, Teilzeit-, Mehrfachbeschäftigung, Arbeitsunterbruch zur Kinderbetreuung, Migrationshintergrund führen insbesondere bei Frauen zu tiefen Renten. Seit der 10. AHV-Revision, die mit dem Splitting und den gratis geleisteten Erziehungs- und Betreuungsgutschriften den Teppich zur Individualrente gelegt haben, sind in den letzten 25 Jahren alle AHV-Revisionen gescheitert. Mit der Längerlebigkeit und der abnehmenden Geburtenrate sowie der laufenden Anpassung der Renten an die Teuerung über den Mischindex erhöhen sich hingegen die laufenden Rentenausgaben. Die AHV-Beiträge werden seit 1975 laufend erhöht von 7,8, auf 8,4 und ab 2020 auf 8,7 Prozent. Parallel dazu werden Mehrwertsteuerprozente erhoben. Ab 2024 insgesamt 1,4 Prozent.

Spielraum zunehmend eingeengt

Das BVG sollte nach zehn Jahren revidiert werden. Grundsätzlich neue Gedanken werden nicht gefunden. Stattdessen werden zur Vermeidung von Verlusten beim Wechsel vom Leistungs- ins Beitragsprimat das Freizügigkeitsgesetz (FZG) geschaffen und der 2. Säule eine neue Aufgabe übertragen: Mit Geldern der Pensionskasse kann mit dem WEF Wohneigentum finanziert werden. Die 1. BVG-Revision senkt den Umwandlungssatz im Obligatorium von 7,2 auf 6,8 Prozent, und mit der nachfolgenden Strukturreform wird der Handlungs- und Ermessensspielraum der 2. Säule mit zunehmenden Vorschriften eingeengt. Wohlfahrtsfonds, der Ursprung der sozialen Verantwortung, die Basis der Sozialpartnerschaft und die paritätische Verwaltung in den Stiftungsräten der Pensionskassen werden bürokratisch erwürgt.

Das oberste verantwortliche Organ der 2. Säule wird mit Kontrollaufgaben, mit regionaler und Oberaufsicht, mit Fachrichtlinien überhäuft, womit sich die Verwaltungskosten laufend erhöhen. Negativzinsen, Quersubventionierung, sinkende Realrenten untergraben das Vertrauen. In der 1. Säule werden die wachsenden AHV-Defizite mit höheren Mehrwertsteuern und Bundesbeiträgen gestopft. Der 2. Säule wird vorgeworfen, dass die Tieflohnbezüger, insbesondere Frauen, keine oder zu tiefe Renten erhalten. Eine BVG-Revision, die dies beseitigt, ist umstritten und hängig. Fundamentalpro-bleme bleiben ungelöst. Also zurück zur Volkspension?

Mehr Spielraum, weniger Bürokratie

Das Dreisäulensystem ist organisch aus der sozialen Verantwortung des Arbeitgebers gewachsen. In Orientierung am shareholder-value haben sich einige Grosskonzerne aus der Sozialpartnerschaft losgelöst, und die zentral geführten Gewerkschaften verlieren den Kontakt zu den firmeneigenen Betriebskommissionen und damit zu ihren verantwortlichen Stiftungsräten in den Pensionskassen. Soll das bis anhin erfolgreiche Dreisäulenkonzept weitergeführt werden, kann dies nur über die Rückführung der sozialen Verantwortung an die Unternehmer, an die paritätische Verwaltung in der Pensionskasse geschehen. Ein künftiges einfaches Rahmengesetz, das den Vorsorgeeinrichtungen wieder mehr Spielraum bietet, das die Konzernführer zu einem nachhaltigen stakeholder-value führt, wie das in der Mehrzahl der KMU noch praktiziert wird, dürfte zielführender sein als eine zunehmende Bürokratisierung, Verstaatlichung und externe Finanzierung der beiden tragenden Säulen. Der neuen Arbeitswelt – weniger, kürzer, länger, unterbrochen arbeiten – passt sich die 2. Säule flexibler an. Geringe Lohneinkommen unterschiedlichen Ursprungs werden in Sozialpartnerschaft über private Institutionen einfacher in die Altersvorsorge integriert als über staatliche Organe. Altersarmut kann effizienter über EL bekämpft werden.

*Werner C. Hug, Dr. et lic.rer.pol., ist Publizist und Berater, spezialisiert auf Fragen der Sozialen Sicherheit. Er wohnt in Bern.

WICHTIGSTE MEILENSTEINE

Die Entwicklung zum Drei-Säulen-Konzept

1818 Gründung der Bernischen Lehrerversicherungskasse (BLVK)

1925 6. Dezember: Artikel 34 quater BV AHV Grundlage 65 % Ja

1931 Ablehnung des Bundesgesetzes zur AHV

1940 Lohn- und Verdienstersatzordnung, heute Erwerbsersatzordnung EO

1947 6. Juli: Volksabstimmung AHV-Gesetz, 80 % Ja, in Kraft 1948, Beitragssatz 4 %, Mindestrente 40 CHF, Beiträge aus Alkohol- und Tabaksteuer, Bund

1951 1. AHV-Revision

1957 4. AHV-Revision, Herabsetzung des Frauenrentenalters von 65 auf 63

1964 6. AHV-Revision, Senkung des Frauenrentenalters auf 62, Bundes- beitrag an AHV (vorerst 20 %, danach abnehmend, heute wieder 20 %)

1966 Einführung der Ergänzungsleistungen EL

1969 7. AHV-Revision, Rentenerhöhung, Beitragssatz, 5,2 %

1972 3. Dezember: Art. 34 quater, BV Begründung des 3-Säulen Konzepts, 75 % Ja

1973 8. AHV-Revision, Existenzsichernde Leistungen mit EL, Beitragssatz 7,8 %

1975 Erhöhung der AHV-Beitragssätze auf 8,4 %, Botschaft zum BVG, Bundes- gesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge

1979 Einführung des Mischindexes

1985 Inkraftsetzung des BVG

1993 Verfassungsgrundlage zur Erhebung eines Mehrwertsteuerprozents für die AHV

1995 Inkrafttreten des Freizügigkeits- und des Wohneigentumsförderungs- gesetzes FZG und WEF im BVG

1997 10. AHV-Revision, AHV-Splitting, Erziehungs- und Betreuungsgutschriften, Frauenrentenaltererhöhung schrittweise von 62 auf 64, Witwerrente

1999 Erhöhung der Mehrwertsteuer um 1 Prozentpunkt

2004– 2006 1. BVG-Revision: Umwandlungssatz(UWS)-Senkung von 7,2 auf 6,8 %, Koordinationsabzug, Eintrittsschwelle, Rechnungslegung, Transparenz, Sanierungsmassnahmen, Anlagevorschriften

2010 Ablehnung der 11. AHV-Revision durch das Parlament

2011– 2012 Strukturreform des BVG, Governance, regionale, Oberaufsicht, spez. Regeln für ö/r Kassen, Vermögensverwaltung, Anlagereglement

2017 Ablehnung der Reform Altersvorsorge 2020, AHV und BVG, UWS-Senkung auf 6,0 %

2020 STAF, Steuerreform und AHV, Erhöhung des AHV-Beitragssatzes um 0,3 % auf 8,7 %

2022 AHV-Revision 21, Rentenalter 65/65, Erhöhung der MWSt um 0,4 auf 8,1 %, Kompensation für Übergangsgeneration

2023 BVG21 Revision in Behandlung, UWS-Senkung auf 6,0 %, Einbezug tiefer Löhne, Kompensation für Übergangsgeneration, Differenzen National-/ Ständerat

2024 Inkraftsetzung AHV21

www.ahv-iv.ch

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