Publiziert am: 02.06.2023

«Sinnvoll austarieren»

ADRIAN WÜTHRICH – «In Zeiten des Fachkräftemangels ist es für die Firmen attraktiv, als Lehrbe-triebe ihre eigenen Fachkräfte auszubilden», sagt der Präsident des Rates der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB). Und Lernende müssten sich früh Gedanken zu ihrer Laufbahn machen.

Schweizerische Gewerbezeitung: In keinem anderen europäischen Land absolviert ein so hoher Anteil an Jugendlichen eine duale Berufsbildung wie in der Schweiz. Welche Vorteile bringt dieser Sonderweg?

Adrian Wüthrich: Rund 60 Prozent der Jugendlichen absolvieren in der Schweiz eine duale Berufslehre. Sie lernen sehr praxisnah und eignen sich Know-how an, das auf dem Arbeitsmarkt gefragt ist. Durch das System der Verbundpartnerschaft mit Wirtschaft, Bund und Kantonen als prägenden Kräften der Schweizer Berufsbildung ist die Nähe zur Arbeitswelt und ihren Bedürfnissen sichergestellt.

Der Berufsbildung gelingt es mit dem dualen Modell, auch schulmüde Jugendliche zu motivieren. Sie haben nach der Lehre nicht nur eine solide Ausbildung, sondern auch sehr gute berufliche Perspektiven. Entsprechend ist die Jugendarbeitslosigkeit bei uns weit tiefer als in vielen anderen europäischen Ländern.

Was alles gehört zu den Stärken des Schweizer Bildungssystems?

Unser Bildungssystem hat viele Stärken. Eine davon ist, dass 91 Prozent der Jugendlichen nach der obligatorischen Schulzeit einen Abschluss auf Sek-II-Stufe haben. Das ist im internationalen Vergleich ein sehr hoher Wert. Trotzdem müssen wir diese Quote weiter steigern, denn ohne Abschluss sind die Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt schwierig.

Eine wichtige Stärke ist ferner die Durchlässigkeit unseres Bildungssystems. Nach einer Berufslehre gibt es viele Möglichkeiten, sich weiterzuqualifizieren – gerade durch die höhere Berufsbildung bis hin zu einem Fachhochschul- oder Universitätsstudium. Diese Durchlässigkeit könnte noch stärker genutzt werden.

Sehen Sie auch besondere Herausforderungen?

Die gibt es natürlich. Wir brauchen ein top Bildungssystem, das rasch auf neue wichtige Themen reagiert, damit wir wirtschaftlich erfolgreich bleiben. Nachhaltigkeitsfragen zum Beispiel, aber auch die rasante digitale Transformation, beschleunigt noch durch die Entwicklungen der künstlichen Intelligenz, gewinnen massiv an Bedeutung und müssen auch in die Bildung und die Berufsbildung einfliessen.

Konstant herausfordernd ist es zudem, eine qualitativ hochstehende Ausbildung zu gewährleisten. Lehrvertragsauflösungen sind mit 22 Prozent noch zu weit verbreitet, und die Durchfallquoten am Ende der Lehre sind in manchen Berufen erschreckend hoch. Da gilt es genauer hinzuschauen.

Nicht zuletzt müssen wir in der dualen Berufsbildung sinnvoll austarieren, wie viel Zeit Lernende im Betrieb, in der Berufsfachschule und in den überbetrieblichen Kursen verbringen. Wir wissen aus der Forschung, dass die Zeit in der Berufsfachschule wichtig ist, um Jugendliche auf das lebenslange Lernen vorzubereiten. Zugleich laufen wir Gefahr, dass durch hohe Schulanteile die Ausbildungsbereitschaft mancher Betriebe sinkt. Hier die richtige Balance zu finden, ist anspruchsvoll.

Im neuen Trendbericht der EHB plädieren Forschende dafür, die Durchlässigkeit zwischen Berufs- und Allgemeinbildung zu optimieren. Wieso ist das wichtig?

Um erfolgreiche Laufbahnen zu fördern, setzen wir in der Schweiz auf das Prinzip «kein Abschluss ohne Anschluss». Die prinzipielle Durchlässigkeit zwischen der Berufs- und der Allgemeinbildung ist aber oft noch mit hohen Hürden verbunden. Wenn wir diese senken können, wird es mehr Personen möglich sein, sich entsprechend ihren Fähigkeiten entfalten zu können, wovon letztlich alle profitieren.

Neue Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt erfordern zudem vermehrt, dass Arbeitnehmende verschiedene Optionen für Tertiärabschlüsse und Weiterbildungen haben, um ihre Kompetenzen aufzudatieren oder um neue berufliche Wege einschlagen zu können.

Sie fordern, dass die Weiterbildungskompetenzen von Berufslernenden gefördert werden müssten. Sind die denn heute mangelhaft?

Nein, das lässt sich nicht pauschal sagen. Doch mit einer Lehre hat man heute längst nicht mehr ausgelernt. Lernende müssen sich deshalb früh Gedanken zu ihrer Laufbahn machen und sich die Kompetenzen aneignen, um sich später erfolgreich weiterzubilden. Dass jemand selbstständig lernen und sich in einem schulischen Kontext Wissen aneignen kann, ist dafür Voraussetzung. Hier spielt die Berufsfachschule eine entscheidende Rolle. Schliesslich haben die Arbeitgeber die gesetzliche Aufgabe, die Weiterbildung zu begünstigen. Arbeiten alle daran, kann das lebenslange Lernen für alle wirklich in die Praxis umgesetzt werden.

Das Lehrstellenangebot ist in der Schweiz seit 2004 stabil geblieben oder sogar gewachsen. Welche Anreize haben KMU eigentlich, Lehrstellen zu schaffen?

Die Lehrbetriebe profitieren davon. Im Schnitt deckt die Arbeitsleistung eines/einer Lernenden alle Ausbildungskosten. Die Wirtschaftlichkeit der Berufsbildung in der Schweiz wird in regelmässigen Kosten-Nutzen-Erhebungen untersucht. Das Mandat dafür hat aktuell die EHB. In Zeiten des Fachkräftemangels ist es für die Firmen zudem attraktiv, als Lehrbetriebe ihre eigenen Fachkräfte auszubilden.

«Im Schnitt deckt die Arbeitsleistung der Lernenden alle Ausbildungskosten.»

Zentral ist für viele Lehrbetriebe zudem, dass sie Jugendlichen eine Chance geben wollen, und damit Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen – auch diese Motive sind in den Studien der EHB belegt.

Die steigende Nachfrage nach Fachkräften führt auch dazu, dass immer höhere Qualifikationen auch in der Berufsbildung erwartet werden. Was bedeutet dieser Trend für die Niedrigqualifizierten und deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt?

Der Anteil an Arbeitsstellen für Personen ohne Sek-II-Abschluss nimmt stetig ab. Neuste Studien zeigen zudem, dass es als Folge der technischen Entwicklung und der Automatisierung weniger Stellen mit einem hohen Anteil an Routinearbeiten gibt. Davon betroffen sind selbst Personen mit einem Berufsabschluss. Dieser Trend dürfte sich noch verstärken. Umso wichtiger ist es, dass bereits Lernende darauf vorbereitet werden, sich stetig weiterzubilden.

In der Westschweiz absolvieren deutlich weniger Jugendliche eine Lehre als in der Deutschschweiz. Wie kann dieser Trend zugunsten der dualen Berufsbildung beeinflusst werden?

Ja, es gibt einen Röstigraben der Berufsbildung. Die Berufslehre hat in der Westschweiz eine weniger hohe Reputation. Zugleich bieten die Betriebe weniger Lehrstellen an. Die Verbände und die Betriebe sowie die kantonalen Behörden müssen potenzielle Lernende und ihre Eltern deshalb besser über die Berufsbildung informieren und sie davon überzeugen, dass die Berufslehre interessante berufliche Perspektiven bietet. Diverse Kantone haben dafür bewusst Massnahmen ergriffen.

Die Berufsmaturität (BM) soll nach der Vorstellung der EHB weiterentwickelt werden. Wie und mit welchem Ziel?

Das Modell der BM, die während der Lehre absolviert wird (BM 1), ist nur in wenigen Berufen stärker verbreitet – zum Beispiel bei den Mediamatiklernenden. Wir finden es wichtig, dieses Modell auch in anderen Berufen zu fördern, da an Berufsleute zunehmend hohe Anforderungen gestellt werden. Es ist für die Lernenden ein anspruchsvolles Modell. Wir müssen deshalb prüfen, wie sie während der BM1 besser unterstützt werden können.

Eine jüngere Studie der EHB zeigt zudem grosse kantonale Unterschiede bei den Zugangsregeln zur BM auf. Das wirkt sich sowohl auf die Eintritts- als auch auf die Abschlussquoten aus. Aufnahmeprüfungen zum Beispiel haben eine hemmende Wirkung.

Solche Mechanismen sind zu berücksichtigen, wenn die BM aus bildungspolitischen Gründen gestärkt werden soll.

Trotz der kürzlichen Ablehnung durch den Ständerat treibt das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI Pläne voran, die Abschlüsse der Höheren Berufsbildung aufzuwerten, indem international verständliche Titel wie «Professional Bachelor» und «Professional Master» eingeführt werden. Was halten Sie von diesem Entscheid?

Die höhere Berufsbildung ist ein wesentlicher Bestandteil unseres schweizerischen Erfolgsmodells. Hier wird es darum gehen, das ausdifferenzierte und qualitativ her-vorragende System weiter zu stärken, ohne es im internationalen Wettbewerb zu benachteiligen. Wenn die ‹Professional Bachelor› und ‹Professional Master› in Deutschland Fuss fassen, wird sich der Druck auf die Schweizer Bezeichnungen unweigerlich erhöhen, unabhängig von der Güte unseres Systems. Die Verbundpartner prüfen aufgrund einer im Parlament beschlossenen Motion die Stärkung der höheren Fachschulen. Im Rahmen dieses Projekts wird die Titelfrage eingehend diskutiert. Alle wollen nur eines: die Berufsbildung weiter stärken.

Interview: Gerhard Enggist

www.ehb.swiss

Zur Person

Adrian Wüthrich ist Präsident von Travail.Suisse. Der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden vertritt die Interessen von zehn Mitgliedsorganisationen, die über 140 000 Mitglieder zählen – u.a. Syna und Hotel&Gastro Union. Wüthrich, auch Präsident des Polizeiverbands Bern-Kanton PVBK, ist seit Jahren politisch aktiv. Nach acht Jahren als Gemeinderat in Huttwil und als Grossrat des Kantons Bern kam Wüthrich 2018 in den Nationalrat (SP/BE). Bis Ende 2019 war er Mitglied der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur. Seit 2020 ist er Präsident des Rates der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB). Der Vater zweier Söhne ist verheiratet mit einer Mütter- und Väterberaterin.

www.adrianwuethrich.ch

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