Publiziert am: 02.06.2023

Über den Tellerrand hinaus

Die «letzte Generation» und andere Klimaschutzaktivisten kleben sich auf Strassen fest oder beschädigen Kunstwerke. Sie betrachten dies als probates Mittel, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen. Friedlicher Protest ist ein wichtiges Mittel, um auf Probleme hinzuweisen und Veränderungen anzustreben. Allerdings sollten diese Aktivitäten im Rahmen der Gesetze und mit Respekt vor den Rechten anderer Menschen stattfinden. Es widerspricht dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, wenn Gesetze und Regeln durch zivilen Ungehorsam und gewaltsame Aktionen gebrochen werden, weshalb ich diese Art des Protestes komplett ablehne.

Aber: Der Klimawandel ist ein wissenschaftlich nachgewiesener Fakt und real. Er ist eine Folge des Anthropozäns, also der neuen geochronologischen Epoche, in welcher die menschlichen Aktivitäten einen signifikanten Einfluss auf die ökologischen Prozesse der Erde haben. Es ist auch unbestritten, dass wir nicht so weitermachen können wie bis anhin, denn steigende Temperaturen, das Abschmelzen der Gletscher, der Anstieg der Meeresspiegel, die Versauerung der Ozeane und das vermehrte Auftreten extremer Wetterereignisse nehmen rasant zu.

Die völkerrechtlichen Verträge von Kyoto und Paris zur Reduktion von Treibhausgasen haben wichtige Ziele definiert und ein Blick auf das seither Erreichte ist angezeigt: Die EU hat von 1990 bis 2020 – je nach Quelle – bereits 25 respektive 33% der Treibhausgasemissionen reduziert. In der Schweiz waren es im gleichen Zeitraum ungefähr 14%. Dabei ist festzuhalten, dass in dieser Zeit die Bevölkerung der Schweiz von knapp 6,7 Millionen auf 8,6 Millionen und in der EU von 372 Millionen auf 447 Millionen gewachsen ist. Die globale Bevölkerung wuchs in diesen 30 Jahren laut Schätzungen von 5,3 Milliarden auf etwa 7,9 Milliarden Menschen an. Und darum ist es weiter nicht überraschend, dass der globale CO2-Ausstoss in dieser Zeit um 50 bis 60 % angestiegen ist.

Bis 2030, d.h. also in nunmehr knapp sieben Jahren, wird die Welt gemäss Schätzungen der Vereinten Nationen 8,5 bis 8,8 Milliarden Menschen haben. Die EU wird bei knapp 450 Millionen stagnieren, und die Schweiz auf 9,3 bis 9,5 Millionen Menschen anwachsen. Die Schätzungen gehen davon aus, dass die Welt 2057 die 10-Milliarden-Marke überschreiten wird, währenddessen die EU bei 450 Millionen Menschen verharrt.

Diese Zahlen sind eindrücklich und zeigen vor allem eines: Mit einem lokalen Ansatz kommt man bezüglich einer nachhaltigen Entwicklung nicht weiter. Die EU hat heute einen Anteil von knapp 9 % an den weltweiten Treibhausgasemissionen. Und währenddem die Weltbevölkerung massiv wächst, wird Europa bevölkerungstechnisch stagnieren. Also müssen wir uns darum kümmern, dass das globale Wachstum ökologischer und CO2-ärmer erfolgt und nicht weiter die Regulierungskeule in der Schweiz und in Europa schwingt. Denn diese bringt der Welt gar nichts und führt nur zu Verlagerungseffekten.

Denn wenn die Industrie weiter immer mehr belastet wird, werden nicht nur Investitionen bei uns zurückgefahren, sondern auch Industrien in anderen Kontinenten angesiedelt. Nachdem Europa, verglichen mit Asien oder Afrika, bevölkerungsmässig nur mässig wachsen wird, machen Investitionen in anderen Regionen alleine schon aus dem Opportunitätskostenprinzip Sinn. Die Wachstumsaussichten und das Potenzial für wirtschaftliche Entwicklung machen Investitionen dort attraktiv, wo wir hingegen mittlerweile wohlstandsmüde geworden sind.

Als Folge der Auslagerung entsteht zusätzlich ein kontraproduktiver Effekt der ökologischen Bestrebungen: Durch eine schwächere Gesetzgebung, z.B. in Schwellenländern, besteht die Gefahr, dass sogar noch mehr CO2 ausgestossen wird. Und wenn man die Transporte der produzierten Güter wieder zurück nach Europa miteinbezieht, fällt die ökologische Bilanz noch schlechter aus.

Europa und die Schweiz wollen die fossilen Energieträger komplett verbannen. Dies ist ohne Zweifel ein hehres und erstrebenswertes Ziel. Aber solange nicht geklärt ist, wie und woher der zusätzliche Bedarf an Elektrizität gedeckt werden soll, bleibt es ein idealistisches Ziel mit sehr grossen Risiken. Ein globales Problem kann nur mit einem globalen Ansatz gelöst werden. Einzelstaatliche Lösungen, ob von der Schweiz oder von der EU, sind kontraproduktiv und ruinieren uns, ohne dass es dem globalem Klima irgendetwas hilft.

*Lionel Schlessinger ist Inhaber und CEO der Monopol Colors und ehemaliger Präsident des Verbandes der Schweizerischen Lack- und Farbenindustrie.

www.monopol-colors.ch

www.vslf.ch

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