Publiziert am: 07.07.2023

«Bewährtes nicht gefährden»

ERICH ETTLIN – Kantonale und kom­munale Mindestlöhne torpedieren die Sozialpartnerschaft, weil sie meist gar allgemeinverbindliche Gesamt­arbeits­verträge übersteuern. «Für Arbeitgeber nimmt die Motivation ab, einen GAV zu vereinbaren», sagt der Obwaldner Mitte-Ständerat, der mit einer Motion Gegensteuer gibt.

Schweizerische Gewerbezeitung: Zürich und Winterthur haben Mitte Juni an der Urne als erste Städte der Schweiz einen kommunalen Mindestlohn angenommen. Was werden die Folgen für dort ansässige und tätige Firmen sein?

Erich Ettlin: Für die Firmen, die schon über dem Mindestlohn bezahlen, natürlich keine. Für die anderen wird die Frage sein, ob sie diese Mehrkosten auf die Preise überwälzen können. Das dürfte aber nur ein Teil der Firmen auch durchsetzen können. Mindestlöhne, die man nicht auf die Konsumenten überwälzen kann, führen zu einem Rückgang von Investitionen, einer Reduktion der Arbeitszeit und/oder zu Personalabbau.

Generell: Was halten Sie vom Anliegen eines Mindestlohns, und was sind dessen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft?

Dass man Löhne bezahlt, mit denen man auch den Lebensunterhalt bestreiten kann, ist ein berechtigtes Anliegen. Ob der Staat oder die Stadt einen Mindestlohn vorschreiben soll, ist eine andere Frage. Hier sollten eigentlich Angebot und Nachfrage und das in der Schweiz bewährte System der Sozialpartnerschaft spielen.

Es ist klar, dass Löhne ein Kostenfaktor sind, den die Unternehmen in ihren Standort- und Investitions-entscheiden berücksichtigen. In Zeiten der Vollbeschäftigung wird man diese Gefahr nicht einkalkulieren, aber die Zeiten bleiben unter Umständen nicht immer so.

«Mindestlöhne führen zu einem Rückgang vonInvestitionen undzu Personalabbau.»

Die Schweizer Stimmbürger haben die Mindestlohn-Initiative 2014 an der Urne mit 76 Prozent Nein-Stimmen bachab geschickt. Linke Kreise drängen damit nun in Kantonen und Städten an die Urne, wo dieses Anliegen mehrheitsfähig erscheint. Heute kennen zum Beispiel die Kantone Neuenburg, Genf und Basel-Stadt einen Mindestlohn. Auch weitere Städte wie Bern, Schaffhausen und Luzern sollen folgen. Wie beurteilen Sie dieses Vorgehen, kantonal oder kommunal etwas durchzusetzen, womit man national krachend gescheitert ist?

Man kann dem natürlich zugute halten, dass es ein demokratisches Recht ist, in der jeweiligen Gemeinde oder im jeweiligen Kanton eine spezielle Regelung einzuführen. Auf der anderen Seite ist dieses flickenteppichweise Vorgehen auch nicht unproblematisch, wenn man sich die von Ihnen erwähnte, klare Willensäusserung der Schweizer Bevölkerung vor Augen führt.

Insbesondere in Bereichen wie dem Mindestlohn, wo gesamtschweizerische Regelungen über Gesamtarbeitsverträge bestehen. Da wird von den Mindestlohn-Befürwortern quasi mit dem Rechenschieber geschaut, wo man aufgrund der Mehrheitsverhältnisse einen Mindestlohn durchbringen kann. Das ist für unser demokratisches System ein nicht unproblematischer Test. Wir sind uns gewohnt, Entscheide der Schweizer Bevölkerung zu akzeptieren, auch wenn man selber anders gestimmt hat und zur unterlegenen Minderheit gehört.

Das Bundesgericht bezeichnete den Neuenburger Mindestlohn 2017 in einem wegweisenden, aber umstrittenen Urteil als sozialpolitisch motivierte Massnahme. Was halten Sie von dieser Begründung?

Im Sinne der Gewaltentrennung masse ich mir nicht an, das Gericht beziehungsweise dessen Entscheid zu beurteilen. Es geht nur darum, die Folgen des Entscheids einzuordnen und allenfalls Lösungen über den Gesetzgeber anzustreben.

Infolge dieses Urteils haben Sie mit einer Motion gefordert, dass Bestimmungen eines allgemeinverbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrags (ave GAV) zu Mindestlohn, 13. Monatslohn und Ferienanspruch anderslautenden Bestimmungen der Kantone vorgehen. Weshalb ist das wichtig?

Vorerst ist festzuhalten, dass meine Motion nur dort ansetzt, wo die Kantone Mindestlöhne eingeführt haben, und damit die GAV übersteuern. Dies, obwohl die GAV allgemeinverbindlich erklärt wurden. Nicht betroffen sind alle anderen Arbeitsverhältnisse. Dort gelten die Mindestlöhne des Kantons natürlich. Da gilt es, den demokratischen Entscheid einzuhalten.

Wenn aber GAV vorliegen, die unter den Sozialpartnern und unter Berücksichtigung der gesamten Arbeitsbedingungen ausgehandelt wurden, dann ist eine Sonderlösung für einen Teilbereich wie den Mindestlohn in einzelnen Kantonen oder Gemeinden problematisch. Da wird quasi einseitig ein Teil der Vertragsbedingungen abgeändert. Und das bei allgemeinverbindlich erklärten GAV, die also auch für Unternehmen gelten, die dem GAV zwangsweise unterstellt wurden. Und meine Motion zielt nur auf diese allgemeinverbindlich erklärten GAV.

Zudem haben einige Kantone mit kantonalen Mindestlöhnen den ausdrücklichen Vorrang von allgemeinverbindlichen GAV angebracht, zum Beispiel Basel-Stadt. Auch dort spielt meine Motion keine Rolle, sie ist da praktisch schon umgesetzt.

Gerade Branchen mit eher tiefen Löhnen stellt der Mindestlohn vor Probleme. Zudem herrscht ein Flickenteppich, was dessen Höhe anbelangt. Wie wirkt sich das alles auf den Geschäftsalltag eines überregional tätigen KMU aus?

Das macht es natürlich kompliziert, insbesondere weil sich diese Firmen auf den gesamtschweizerisch einheitlich anzuwendenden GAV verlassen haben. Wenn nun in einzelnen Städten und Kantonen jeweils andere Regelungen gelten, wird die GAV-Regelung zur Makulatur, und es entsteht bezogen auf die Lohnvereinbarungen und -administration ein unübersichtliches Durcheinander.

Sie begründeten Ihren Vorstoss damit, dass dadurch die Sozialpartnerschaft vor umstrittenen Eingriffen geschützt wird. Inwiefern?

Wenn ein sehr wichtiger Teil eines GAV nur für bestimmte Kantone oder Gemeinden gilt, nimmt natürlich für die Arbeitgeber die Motivation ab, einen GAV zu vereinbaren. Sie müssten im Hinblick auf solche partiellen Anpassungen der Mindestlöhne bei anderen Punkten, zum Beispiel der Arbeitszeit etc., des GAV mehr aushandeln – was die Verhandlungen erschwert – oder ganz auf den GAV verzichten.

Ich höre von Unternehmen, dass sie im Sinne von Kompromissen in verschiedenen Punkten die Regelungen des GAV schlussendlich akzeptiert haben und anwenden (Sie werden über die Allgemeinverbindlichkeit dazu auch gezwungen.). Sie stützen ihre Arbeitgeberverbände bei der Aushandlung der GAV. Wenn nun aber ein so wesentlicher Teil wie der Mindestlohn in einzelnen Regionen nicht gilt, haben sie das Gefühl, dass die von ihnen akzeptierten Gesamtpakete nicht mehr ausgeglichen sind, sondern zu ihren Ungunsten und nachträglich angepasst wurden. Sie werden sich bei der Ausarbeitung von Gesamtarbeitsverträgen kritisch einbringen, und die Arbeitgeberverbände geraten dadurch unter internen Druck. Entweder schaffen sie eine Kompensation in anderen Bereichen oder die GAV finden keine Akzeptanz mehr.

«Da wird quasi einseitig ein Teil der Vertragsbedingungen abgeändert.»

Was sind die Vorteile der Sozialpartnerschaft? Und weshalb nehmen ausgerechnet linke Kreise in Kauf, diese zu torpedieren?

Die Vorteile der Sozialpartnerschaft sind vorerst einmal der Arbeitsfriede, der zum Wohlstand der Schweiz beigetragen hat. Es ist primär eine Lösung, die ohne Zutun des Gesetzgebers auskommt, und daher die nötige Flexibilität gewährleistet. Über die Jahrzehnte hat die Sozialpartnerschaft sowohl auf Arbeitgeber- wie auch auf Arbeitnehmerseite eine grosse Akzeptanz gefunden und zur Vertrauensbildung beigetragen. Es wäre schade, wenn dieses bewährte Modell durch einseitige Massnahmen gefährdet würde.

«Die Vorteile der Sozialpartnerschaft sind vorerst einmal der Arbeitsfriede, der zum Wohlstand beigetragen hat.»

Die eidgenössischen Räte haben Ihre Motion angenommen. Wie geht es weiter? Ist nun definitiv klar, dass in Branchen mit ave GAV dessen Bestimmungen zum Mindestlohn Vorrang geniessen, selbst in Kantonen und Städten, die an der Urne einen höheren Mindestlohn angenommen haben? Oder drohen weitere Konflikte?

Der Bundesrat ist nun beauftragt, eine Vorlage auszuarbeiten. Dabei wird er die nicht einfache Frage zu klären haben, wie die Motion umzusetzen ist. Ich bin gespannt auf diese Arbeiten, und es wird eine Diskussion im Parlament darüber geben. Die Motion beauftragt den Bundesrat, tätig zu werden. Wie es schlussendlich herauskommt, wird die Debatte im Parlament zeigen. Man darf darauf gespannt sein.

Interview: Rolf Hug

www.erich-ettlin.ch

vgl. auch Artikel auf Seite 4

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