Publiziert am: 01.09.2023

Weltweit einmalig

SOZIALVERSICHERUNGEN – Die Kombination von Eigenverantwortung in beruflicher Vorsorge und Solidaritäten in AHV hat sich bewährt, weil sie ausgewogen ist. Statt immer mehr Leistungen zu fordern, gilt es, Solidaritäten und Eigenverantwortung in eine Balance bringen.

Im kommenden März stimmen wir voraussichtlich über die Einführung einer 13. AHV-Altersrente ab. Gleichzeitig wird der Souverän darüber entscheiden müssen, ob das Regelrentenalter auf 66 angehoben werden soll. Die Gewerkschaften verbinden nun das Gedenken an die Schaffung des Bundesstaates mit der Inkraftsetzung der AHV.

175 Jahre Bundesverfassung, 75 Jahre AHV. Zufall oder Anlass fĂĽr eine Doppelfeier und Grund zu einem Ausbau der AHV und fĂĽr eine 13. AHV-Rente, wie es Pierre-Yves Maillard im Nationalrat gefordert hat?

Fakten zur Entstehung des «Sozialstaates»

1848 raufen sich die Stände zu einem Bundesstaat zusammen. Damit wird eine Fortsetzung des Bürgerkrieges verhindert. Die konservativen Stände hätten den Termin aber ebenso gut verhindern können.

Seit 1925 steht in der Verfassung, dass eine Alters- und Hinterlassenenversicherung geschaffen werden soll. 1931 lehnen Volk und Stände eine Gesetzesvorlage dazu ab. Erst nach dem 2. Weltkrieg gelingt dem Parlament ein AHV-Gesetz, das von Volk und Ständen am 6. Juli 1947 angenommen und 1948 in Kraft gesetzt wird.

Die beiden geschichtlichen Ereignisse sind somit zufällig und nicht miteinander in Verbindung zu bringen – geschweige denn Anlass dazu, zur Feier eine 13. AHV-Rente einzuführen.

Die freisinnigen Erschaffer der Eidgenossenschaft erkannten schon früh die Notwendigkeit der Rücksichtnahme auf sozial Schwächere. Ende des vorletzten Jahrhunderts wird europaweit einzigartig ein Fabrikgesetz geschaffen. Und Anfang 1900 werden die Grundlagen zu einem Kranken- und Unfallversicherungsgesetz wie auch zu einer Arbeitslosenversicherung geschaffen. Anstelle der Fürsorge tritt der individuelle Rechtsanspruch auf eine Versicherung. Damit schaffen die Freisinnigen eine Marktwirtschaft mit sozialer Verpflichtung. Aber seit 1848 dauert es bis zur konkreten Umsetzung und Konkretisierung der Sozialversicherungen jeweilen Jahre. So fixiert bereits 1931 die Vorlage zu einem AHV-Gesetz ein Obligatorium mit einer «Mindestfürsorge» ab Alter 66, finanziert über Lohnprozente und Abgaben auf Alkohol und Tabak, aber verbunden mit Zuschüssen für Bedürftige. Darüber hinaus sollen die Kantone Ergänzungsleistungen erbringen.

Immer neue Forderungen

Noch heute debattieren wir über Jahre zum Regelrentenalter, über die Höhe der Leistungen, über die Rolle der Ergänzungsleistungen. Damals standen Eigenverantwortung und Gemeinsinn im Vordergrund. Heute dominiert der Staat als Verantwortungsträger. Soziale Unterstützung für Eltern, Väter, Mütter, staatliche Kitas, «bezahlbare Krankenkassenprämien», eine 13. AHV-Rente usf. bis zu bedingungslosem Grundeinkommen werden verlangt. Der Ausbau aller und die Forderung nach neuen Sozialversicherungen wird immer grösser.

Mehr Staat – weniger Eigenverantwortung

Heute besteht in der Politik sogar die Tendenz, ja Gefahr, den berühmten Satz von John F. Kennedy umzukehren. Er lautet nun: «Frage nicht, was Du für Deinen Staat tun kannst. Frage, was der Staat für Dich tun soll.» Unter diesem Motto stehen insbesondere die zunehmenden Ansprüche der Gewerkschaften und der SP im Verbund mit den Grünen. So erzählt zur Begründung einer 13. AHV-Rente für alle der Präsident des Gewerkschaftsbundes, Pierre-Yves Maillard, geschichtsklitternd, dass das Parlament zur 100-Jahr-Feier der Bundesverfassung mit der Schaffung der AHV eine grossartige solidarische Sozialreform für das Schweizervolk geschaffen habe. Damit sei eine neue Solidarität für die Nation entstanden. Die Willensnation Schweiz hänge von dieser konkret umgesetzten Solidarität ab. Mit der Schaffung der AHV sei dies 1948 gemacht worden, so der Gewerkschaftsführer. Die Geschichte erzählt allerdings etwas anderes.

Solidarität oder…

Der Vertreter der Arbeitnehmenden, der mit seiner Gewerkschaft nicht einmal 15 Prozent der arbeitenden Bevölkerung vertritt, aber so tut, als spreche er für alle Arbeitnehmenden, verkennt, dass die Freisinnigen den Sozialstaat begründet haben. In den Sozialversicherungen gilt die allgemeine Regel: einer für alle, alle für einen. Diese Form der Solidarität beruht auf Gegenseitigkeit und hat mit der gewerkschaftlichen Solidarität nichts gemeinsam. In der AHV, in der Kranken-, Arbeitslosenversicherung geht es um die Deckung von Risiken und die Behebung von Schäden, die mit finanziellen Mitteln gedeckt werden. Die gewerkschaftliche Solidarität hingegen wird als Waffe für bessere Entgelt- und Arbeitsbedingungen in der Unternehmung sowie in der Gesellschaft eingesetzt.

… Umverteilung

Ökonomisch gesehen führt die Solidarität in den Sozialversicherungen zu Umverteilungen. Wer finanziert was, wie, wann und für wen? Altersvorsorge und Krankenversicherung stehen vor immensen Finanzierungsproblemen. Während die Zahl der Älteren laufend zunimmt, sinkt die Zahl der Erwerbstätigen, die diese finanzieren.

Soll das Umlageverfahren in der AHV beibehalten werden, müssten die Aktiven höhere AHV-Beiträge einzahlen – es sei denn, die Pensionierten akzeptierten tiefere Renten. Werden die AHV-Renten weiterhin garantiert, muss die Frage beantwortet werden: Mit welchen neuen ökonomischen Umverteilungen können die sich öffnenden Finanzierungslücken gestopft werden?

Weltweit einmalig werden schon heute von allen Lohneinkommen AHV-Beiträge unbegrenzt erhoben. Ab rund 90 000 Franken wirken diese Lohnabzüge wie Steuern, denn alle Personen mit höheren Einkommen erhalten bloss eine fixierte Maximalrente, unabhängig von den einbezahlten Beiträgen. Andererseits wird allen Erwerbstätigen, die einmal AHV-Beiträge geleistet haben, eine Mindestrente von heute 1225 Franken, die Hälfte der Maximalrente, ausbezahlt. Darüber hinaus werden für Erziehungs- und Betreuungsleistungen gratis Gutschriften geleistet.

Hinzu kommt, dass bereits über ein Viertel der Einnahmen der AHV über Steuern finanziert wird. Resultat: Über 92 Prozent der AHV-Rentenempfänger finanzieren mit ihren Beiträgen ihre Rente nicht selber. Haben die Umverteilungen bereits ein Maximum erreicht? Wird der Generationenvertrag überstrapaziert?

Marktwirtschaft und…

Gleichzeitig bekämpft dieselbe Linke eine Revision der beruflichen Vorsorge, obwohl es auch hier Solidaritäten gibt. So bei den Risiken Tod und Invalidität, zwischen Ledigen und Verheirateten, ja zwischen hohen und tiefen Lohnbezügern, gilt doch für die geringen Einkommen ein tieferer Umwandlungssatz. Im Gegensatz zur AHV dominieren hier aber die marktwirtschaftlichen Elemente, denn es spart jeder mit seinen Beiträgen und jenen des Arbeitgebers für sich selber. Die angesparten Gelder werden zwar paritätisch von den Sozialpartnern in einer unabhängigen Stiftung verwaltet. Die Kapitalanlagen folgen aber den Regeln der Marktwirtschaft.

Diese Kombination von Eigenverantwortung in beruflicher Vorsorge und Solidaritäten in AHV ist weltweit ebenfalls einmalig und hat sich bewährt, weil sie ausgewogen ist. Sie wird ergänzt mit der steuerlich geförderten Eigenvorsorge. Solidaritäten und Eigenverantwortung sind im Gleichgewicht.

… Balance

Die Politik ist also gut beraten, wenn sie dieses Gleichgewicht nicht stört. Schon heute sind die Rentner für die kommenden 65 Jahre mit grosser Wahrscheinlichkeit bekannt. Rentenalter, Lohn-, staatliche Beiträge und Höhe der Leistungen determinieren die Finanzierung. Es gilt nun, einen Mix unter diesen Parametern sowie unter den drei Säulen, den Ergänzungsleistungen und der Fürsorge zu finden, die Solidaritäten und Eigenverantwortung in eine Balance bringen.

Werner C. Hug

Weiterführende Artikel

Meist Gelesen