Publiziert am: 17.11.2023

«Der Staat übernimmt sich»

CHRISTOPH A. SCHALTEGGER – Der Professor für Politische Ökonomie hat die Löhne beim Staat mit denjenigen ähnlicher Stellen in der Privatwirtschaft verglichen. Das Fazit: In der Bundes­ver­waltung wird im Schnitt 11,6 Prozent besser verdient. Für ihn ist klar: «Es ist wichtig, an der Schuldenbremse festzuhalten.»

Schweizerische Gewerbezeitung: «Bis 2030 fehlen im öffentlichen Dienst mehr als 130 000 Fachkräfte.» Das konnte man unlängst in einem Artikel in der «SonntagsZeitung» lesen. Darin monieren Personalverantwortliche, dass der Staat unter anderem wegen unflexibler Lohnmodelle ein Handicap als Arbeitgeber habe. Was halten Sie von dieser Aussage?

Christoph A. Schaltegger: Lassen Sie uns die Fakten anschauen: Die Quote der offenen Stellen liegt gemäss Bundesamt für Statistik im Dienstleistungssektor aktuell bei 2,1 Prozent und in der Industrie und im Baugewerbe bei 2,8 Prozent. In der öffentlichen Verwaltung beträgt die Quote 1,8 Prozent. Dies spricht nicht dafür, dass der Druck beim Staat besonders hoch wäre.

Ausserdem sollte man sich bewusst sein, dass der allgemeine Fachkräftemangel auch aus dem Staatswachstum resultiert. Der Staat ist ein attraktiver Arbeitgeber: Er bezahlt vergleichsweise gute Löhne, und bietet ebensolche Arbeitsbedingungen. Etwas Zurückhaltung in den Ansprüchen an den Staat würde den Fachkräftemangel stärker dämpfen als ein gegenseitiges Hochrüsten beim Lohn.

Im Artikel ist viel von «öffentlichem Dienst» die Rede und auch von «Service public». Das tönt nach einem hehren – ja freiwilligen, fast schon aufopfernden – Dienst an der Allgemeinheit. Wie fassen Sie diese Begriffe auf? Und was ist unter «Öffentlicher Dienst» genau zu verstehen?

Bei aller Semantik und Staatsromantik zählt volkswirtschaftlich zweierlei. Meiner Meinung nach übernimmt sich der Staat heute. Er zieht Aufgaben an sich und reguliert Dinge, die er besser dem Markt überlassen würde. Man denke nur an all die staatsnahen Betriebe, die heute weit ausserhalb ihres Kernauftrags aktiv sind, von der BKW über die SBB bis zur Post und Postfinance. Zweitens setzt er dafür Arbeitskräfte ein, die er dem privaten Sektor entzieht. Gerade weil viele dieser Beschäftigten gut ausgebildet sind, ist dies netto ein volkswirtschaftlicher Verlust.

Natürlich wird auch nach ‹besseren Arbeitsbedingungen› für Staatsangestellte gerufen. Sie haben jedoch in einer Studie die Löhne des öffentlichen Sektors unter die Lupe genommen, und festgestellt, dass dort durchs Band besser als in der Privatwirtschaft verdient wird. Kurz zusammengefasst: Was sind in Ihrer Studie die zentralen Ergebnisse bezüglich Löhne?

Das durchschnittliche Bruttoerwerbseinkommen für eine Vollzeitstelle im Zeitraum 2018 bis 2020 betrug in der Privatwirtschaft 88 896 Franken. In der Bundesverwaltung sind es mit 117 176 Franken 30 Prozent mehr. Das sagen die Daten des Bundesamtes für Statistik.

Nun ist klar, der Bund, aber auch die Kantone und Gemeinden brauchen viele hoch qualifizierte Fachspezialisten. Gemeinsam mit Frederik Blümel und Marco Portmann habe ich deshalb die Löhne der Verwaltungsmitarbeiter mit den Löhnen sogenannter statistischer Zwillinge aus der Privatwirtschaft verglichen. Das heisst, unsere Vergleichsgruppe aus der Privatwirtschaft hat den gleichen Bildungs-, Berufserfahrungs-, Alters- und Geschlechtermix wie die Verwaltungsmitarbeiter.

Wir haben ermittelt, dass gegenüber der Privatwirtschaft eine Verwaltungslohnprämie existiert, die für die Bundesverwaltung durchschnittlich 11,6 Prozent, in den Kantonsverwaltungen 4,3 Prozent und in den Gemeindeverwaltungen 3,4 Prozent beträgt.

Was heisst das, wenn wir uns auf den Bund konzentrieren?

Die eingangs erwähnte Lohndifferenz von 30 Prozent kann nicht wegerklärt werden, weil der Bund vergleichsweise viele hoch qualifizierte Akademiker beschäftigt; auch vergleichbare Arbeitnehmer verdienen beim Bund mehr. Die Lohnprämie steigt bei den tieferen Löhnen bis auf 16 Prozent und beträgt bei den Top-Verdienern in der Verwaltung immerhin noch fünf Prozent. Die Lohnprämien steigt überdies mit dem Alter und der Anstellungsdauer.

Eine Lohnanalyse lässt stets wesentliche Aspekte eines Anstellungsverhältnisses aussen vor. Ob Bundesangestellte vielleicht 11,6 Prozent motivierter und produktiver arbeiten als in der Privatwirtschaft, können wir nicht aus den Daten herauslesen. Annehmlichkeiten wie Jobsicherheit, Arbeitsatmosphäre, Sinnhaftigkeit der Tätigkeit, Stress am Arbeitsplatz und Sozialleistungen machen die Verwaltungen allerdings über das Grundgehalt hinaus attraktiv.

Welche Folgen hat dieses Ungleichgewicht, und was sind dessen Auswirkungen auf private Unternehmen, insbesondere KMU?

Gerade KMU in wettbewerbsintensiven Branchen können die Löhne nur im Rahmen ihres Produktivitätswachstums erhöhen. Wenn der Staat hier systematisch attraktiver ist, wird das zum Problem. Die Wettbewerbsfähigkeit leidet, wenn nicht auf Zuwanderer zurückgegriffen werden kann oder die Produktion dorthin verlagert wird.

Sie haben ebenso gezeigt, dass die Stellen beim Staat und den staatsnahen Betrieben – gerechnet in Vollzeitäquivalenten – im Vergleich zur Privatwirtschaft überproportional wachsen. Könnten Sie zur Einordnung ein paar Zahlen nennen zur Beschäftigung im öffentlichen Sektor und dessen Wachstum?

Wenn wir vom öffentlichen Sektor sprechen, meinen wir den Staat, die öffentlichen Unternehmen sowie die Institute des öffentlichen Rechts.

Im Jahr 2019 sind im privaten Sektor 3,5 Millionen Vollzeitäquivalente beschäftigt. Im selben Jahr sind es im öffentlichen Sektor schätzungsweise 700 000 Vollzeitäquivalente. Ich betone: schätzungsweise. Zu den staatsnahen Betrieben inklusive Tochterunternehmen der Gemeinden, der Kantone und des Bundes gibt es keine zuverlässige Statistik.

Nach eigener, konservativer Schätzung beträgt die Beschäftigung im öffentlichen Sektor 16,9 Prozent. Wir schätzen, dass die Wachstumsrate der Beschäftigung im öffentlichen Sektor seit 2011 etwa ein Viertel über jener der Privatwirtschaft liegt.

Weshalb ist dieses übermässige staatliche Stellenwachstum ein Problem?

Erstens geht es hier um öffentliche Steuergelder, zweitens um einen funktionierenden und fairen Arbeitsmarkt und drittens um einen Bildungsmarkt, der sich nicht immer stärker auf staatliche Bildungsprofile ausrichten sollte.

Es herrscht Fach-, ja gar Arbeitskräftemangel. Wie können Unternehmen dieser Benachteiligung durch privilegierte Staatsstellen entgegenwirken?

Ich sehe hier vor allem die Politik in der Pflicht. Der Staat sollte begrenzt werden. Bei den Aufgaben, die er übernimmt, und der Art und Weise, wie er auf dem Arbeitsmarkt aktiv ist. Man muss sehen: Wohlstand wird durch die Privatwirtschaft generiert. Ein Staat, der gute Rahmenbedingungen gewährleistet, erleichtert es den Firmen, Wohlstand für alle zu generieren. Ein übergriffiger Staat dagegen nicht.

Seit Kurzem haben wir ein neues Parlament. Was sollte die von Ihnen erwähnte Politik unternehmen, um dieses Staatswachstum einzudämmen, und wie das Problem der privilegierten Löhne angehen?

Erstens ist es wichtig, an der Schuldenbremse festzuhalten. Sie sollte nicht aufgeweicht werden, denn der Mechanismus beschränkt die Staatsausgaben in etwa auf das Wirtschaftswachstum. Zweitens wäre aus meiner Sicht die Einführung eines Finanzreferendums auf Bundesebene wichtig. Es beschränkt den Ausgabenappetit des Parlaments, weil es sich gegenüber dem Bürger und Steuerzahler direkt rechtfertigen muss. Drittens sollte sich jeder Politiker an den Staatsrechtler Montesquieu erinnern: ‹Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu erlassen.›

«Wenn der Staat bei den Löhnen systematisch attraktiver ist, leidet Die Wettbewerbsfähigkeit.»

Noch eine Zwischenfrage, die in diesem Zusammenhang ebenfalls interessieren könnte: Wieso fehlen eigentlich trotz Rekordzuwanderung überall Fach- respektive Arbeitskräfte?

Ganz einfach: Weil es ein selbstverstärkender Prozess ist. Eine zugewanderte Person schafft Nachfrage nach weiteren Zuwanderern. Es kommen ja nicht nur Ärzte, Pfleger, Buschauffeure und andere, die Lücken im Arbeitsmarkt füllen, sondern auch Assistenten, Patienten und Passagiere, die genau diese Lücken mehr als schliessen.

Zum Schluss: Sie haben die Schuldenbremse angesprochen, die Sie mitentwickelt haben. Immer wieder wollen Politiker von rot-grüner Seite diese aufweichen, zum Beispiel mit «ausserordentlichen» Ausgaben. Weshalb ist das eine schlechte Idee?

Man muss sehen: Die gesunde Ausgangslage in der Finanzpolitik haben wir der Schuldenbremse zu verdanken. Wir würden heute mehr als eine doppelt so hohe Schuldenquote auf Bundesebene haben, ohne diese Bremse. Das hat uns während Corona die Kapazität geschaffen, innert kürzester Zeit milliardenschwere Hilfen auszuzahlen.

Die Schuldenbremse schafft den Anreiz zur Prioritätensetzung in der Politik. Gerade in unsicheren Zeiten, wo wir die Notwendigkeit sehen, dass sich der Staat wieder stärker auf die Grundaufgaben wie Verteidigung und Sicherheit fokussiert, kann die Schuldenbremse gute Dienste erweisen. Andernfalls droht eine «Politik der Addition», also eine Anspruchsinflation nach dem Motto: ‹Ich will immer alles, und das sofort›.

Interview: Rolf Hug

» Mehr zur Studie (Forschungsinstitut Schweizer Wirtschaftspolitik Universität Luzern)

 

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