Publiziert am: 19.01.2024

«Ein Wachstumsprogramm»

HANDEL – Die Aufhebung der Industriezölle sei ein wichtiges Signal, dass sich die Schweiz dem Globalmarkt weiter öffne, sagen Experten der Unternehmensberatungsfirma Accenture. KMU profitierten unter anderem davon, dass sie die Lieferketten diversifizieren könnten.

Schweizerische Gewerbezeitung: Die Schweiz hat die Industriezölle per Anfang Jahr aufgehoben. In ein paar wenigen Sätzen: Was hat das für generelle Folgen?

Miriam Dachsel: Es ist ein wichtiges Signal der Schweiz, dass sie sich dem Globalmarkt weiter öffnet. Die Unternehmen können nun eine breite Palette an Industrieprodukten günstiger importieren. Dazu zählen sowohl Vorleistungen für Produktionsprozesse, zum Beispiel Investitionsgüter, Salz, Rohstoffe, Maschinen und Halbfabrikate, als auch Konsumgüter wie Haushaltsgeräte, Fahrräder, Schuhe oder Kleider.

Diese geringeren Importkosten wirken sich positiv auf den Cash-flow, die Eigenkapitalquote und die Finanzsituation der Firmen aus. Insgesamt handelt es sich für die Schweizer Volkswirtschaft um ein Wachstumsprogramm.

Dem Bund fehlen zwar kurzfristig diese Zolleinnahmen. Jedoch führt der Industriezollabbau zu einer höheren Wirtschaftsleistung und dadurch zu höheren Steuereinnahmen. Gesamtwirtschaftlich betrachtet übersteigen die positiven Effekte deutlich die erwarteten Einkommensverluste des Bundes.

Von welcher Grössenordnung sprechen wir?

Michael Eichstedt: Der Bund hat Berechnungen angestellt und schätzt den Gesamtwohlfahrtsgewinn auf 860 Millionen Franken. Seine Zahlen stammen allerdings von 2016. Er hat diese im Rahmen der damals laufenden politischen Vernehmlassung errechnet. Wir gehen davon aus, dass diese Zollabschaffung zu einem Wohlfahrtsgewinn für die Schweiz von gesamthaft über einer Milliarde Franken pro Jahr führt.

Wie kommen Sie auf diese Zahl?

Michael Eichstedt: Wir haben uns an den neueren Zahlen von 2022 orientiert. Wir haben den Zollsatz von 2022 mit dem neuen, ab 2024 gültigen Satz für jeden einzelnen Artikel oder jedes Produkt verglichen, und dann die jeweilige Differenz berechnet. Grundlage bildete der Datensatz des Bundesamts für Zoll und Grenzsicherheit.

Wir haben die Waren in grössere, umfassende Kategorien eingeteilt, und die Beträge hochgerechnet. Durch dieses Verfahren konnten wir die Warengruppen mit der höchsten Reduktion in Schweizer Franken pro 100 Kilogramm der eingeführten Ware ausweisen.

Und wo sind die Unterschiede am grössten?

Michael Eichstedt: Am meisten werden Branchen profitieren, welche Rohstoffe wie Metalle, Kies, Beton, Seltene Erden, aber auch Marmor, Glas, Edelsteine usw. verarbeiten. Also diejenigen Rohstoffe, die wir als ‹Steine und Erden› zusammenfassen. An zweiter Stelle profitiert der Sektor ‹Textil, Bekleidung und Schuhe›. Für diese Industriezweige sinken die Produktionskosten am stärksten, und wir erwarten Marktanteilsgewinne und potenzielles Wachstum im In- und Ausland.

Sie erwähnen in Ihrer Analyse unter anderem die Bauwirtschaft.

Michael Eichstedt: Genau. Wir gehen beispielsweise davon aus, dass die Bautätigkeit angekurbelt wird und damit die Infrastrukturentwicklung vorwärtsgeht – mit mehr Möglichkeiten für innovative Designs. Zudem profitiert das Kunsthandwerk im Bereich von Steinen, Glas und Keramik.

Im Textil- und Bekleidungssektor verbessert sich die Wettbewerbsfähigkeit, und es öffnet sich vielleicht die Tür für eine mögliche Rückkehr von Unternehmen, die zuvor in Ländern mit niedrigeren Produktionskosten abgewandert sind. Zumal die Konsumenten zunehmend Wert auf lokal produzierte Waren legen.

Welche Auswirkungen hat der Industriezollabbau auf den Warenfluss?

Michael Eichstedt: Wir werden mit Sicherheit einen höheren Zustrom an Waren beobachten, da Handelsschranken beseitigt und der grenzüberschreitende Verkehr erleichtert wird. Je mehr Waren in die Schweiz kommen, desto mehr muss die In-frastruktur – also Strasse, Schiene, Flughäfen usw. – ausgebaut werden, um diese zusätzliche Menge an Gütern aufnehmen zu können.

Die Transport- und Logistikbranche wird stark profitieren, weil sie überall involviert ist. Das Bundesamt für Raumentwicklung erwartet bis 2050 einen Anstieg von 31 Prozent im Gütertransport. Die Logistikunternehmen sollten deshalb jetzt über strategische Allianzen und Investitionen nachdenken, um von diesem erwarteten Anstieg zu profitieren, zum Beispiel im Bereich Lagerkapazitäten.

«Wir gehen davon aus, dass diese Zollabschaffung zu einem Wohlfahrts-gewinn von über einer Milliarde Franken pro Jahr führt.»

Wofür sollen die Unternehmen und insbesondere die KMU diese Einsparungen einsetzen?

Miriam Dachsel: Das Beste wäre, wenn die KMU dieses Geld reinvestieren würden. Zum Beispiel in die Digitalisierung, um mehr über das Verhalten ihrer Kunden herauszufinden. Profitieren können KMU auch, indem sie die Lieferkette und den Einkauf diversifizieren. Es bietet sich die Chance, vielleicht einmal nicht das Günstigste einzukaufen.

Sicherlich werden auch die Konsumenten zu einem Teil profitieren. Auf das einzelne Produkt heruntergerechnet macht der Wegfall der Industriezölle aber nicht viel aus, und grosse Preissenkungen sind deshalb nicht zu erwarten. Man darf zudem nicht vergessen, dass die wirtschaftliche Situation derzeit nicht ganz einfach ist. Die Unternehmen kämpfen mit steigenden Energiepreisen und einem starken Franken – um nur zwei Beispiele zu nennen.

Interview: Rolf Hug

Miriam Dachsel ist Leiterin Strategie- und Managementberatung bei Accenture Schweiz. Michael Eichstedt leitet die Strategie- und Managementberatung für den Bereich Fracht & Logistik bei Accenture Schweiz. Accenture ist eine der weltweit grössten Unternehmens­beratungs­firmen.

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