Publiziert am: 19.01.2024

«Finanzielles Ausbluten droht»

MATTHIAS MÜLLER – Ab 2030 schreibt die AHV bereits wieder Verluste in Milliardenhöhe. «Viele Junge glauben nicht mehr daran, dass sie dereinst eine Rente erhalten», sagt der Präsi­dent der Jungfreisinnigen. Um die AHV langfristig zu sichern, sei ein Ja zur Renteninitiative dringend nötig.

Schweizerische Gewerbezeitung: Im Herbst 2022 sagte das Stimmvolk knapp Ja zur Anhebung des Frauen-Rentenalters auf 65 Jahre (AHV21). Im März 2024 kommt nun bereits die Renteninitiative der Jungfreisinnigen an die Urne, die eine weitere generelle Erhöhung des Pensionsalters fordert. Überladen Sie damit nicht das Fuder?

Matthias Müller: Überhaupt nicht. Die AHV21 war dringend notwendig, um das Rentenniveau überhaupt bis 2029 zu sichern und die künftigen Generationen nicht zu benachteiligen. Ab 2030 schreibt die AHV aber wieder rote Zahlen in Milliardenhöhe. Eine weitere Reform ist also unausweichlich. Mit der Renteninitiative sichern wir die AHV-Renten langfristig.

«Wenn wir nichts unternehmen, überlassen wir den kommenden Generationen einen gigantischen Schuldenberg.»

Sie gelten als Vater der Renten-initiative. In groben Zügen: Was will diese ganz konkret?

Die Renteninitiative will die Finanzierung der AHV mit der Erhöhung des Referenzalters nachhaltig sichern. Sie fordert, zuerst das Referenzalter für Frauen und Männer bis 2033 schrittweise auf 66 Jahre zu erhöhen. Danach soll das Referenzalter an die durchschnittliche Lebenserwartung gekoppelt werden: Das Referenzalter würde automatisch erhöht, wenn die Lebenserwartung steigt – allerdings nicht eins zu eins, sondern nur um 80 Prozent der gestiegenen Lebenserwartung und in Schritten von höchstens zwei Monaten pro Jahr.

Wird die Initiative angenommen, würde die AHV massiv entlastet. Die Erhöhung des Rentenalters auf 66 Jahre würde die Ausgaben der AHV im Jahre 2030 voraussichtlich um rund zwei Milliarden Franken reduzieren. Mit den automatischen Anpassungen des Rentenalters an die steigende Lebenserwartung würde die AHV zusätzlich entlastet.

Auch wenn das Anliegen momentan chancenlos zu sein scheint: Weshalb ist es trotzdem richtig und wichtig, zumindest über die Höhe des Referenzalters zu diskutieren?

Die AHV-Finanzen werden durch den demografischen Wandel arg strapaziert. Es droht eine demografische Sturmflut: Die Zahl der Pensionierten nimmt schneller zu als die Zahl der Erwerbstätigen, die in die AHV einzahlen. Die Erhöhung des Referenzalters trägt entscheidend zur Sicherung der AHV-Finanzen bei. Für die Rentenaltererhöhung spricht in erster Linie die steigende Lebenserwartung. Man stelle sich vor: Bei Einführung der AHV im Jahre 1948 lebte eine 65-jährige Person im Schnitt noch zwölf Jahre. 2050 werden es 25 Jahre sein. Mit anderen Worten: Die Rentenbezugsdauer wird sich bald verdoppelt haben. Es ist also gerechtfertigt, das Referenzalter minimal zu erhöhen.

Sie haben die Finanzierung der AHV angesprochen. Wie sieht es da aus?

Die Zahlen des Bundesamtes für Sozialversicherungen und des Bundesamtes für Statistik sprechen eine klare Sprache: Ohne weitere Reform beträgt das kumulierte Umlagedefizit der AHV bis 2050 zirka 120 Milliarden Franken. Das sind 120 Milliarden Franken ungedeckte Leistungsversprechen. Das entspricht zehn Gotthard-Basistunneln, also zehn Jahrhundertprojekten. Irgendjemand muss das bezahlen. Wenn wir nichts unternehmen, überlassen wir diesen gigantischen Schuldenberg den kommenden Generationen. Das wäre meines Erachtens unverantwortlich.

«Branchenlösungen sind auch in Zukunft ohne Weiteres möglich und wichtig.»

Die Gegner Ihrer Initiative wollen die AHV unter anderem mit zusätzlichen Mitteln sicherstellen. Was halten Sie von dieser Idee?

Wenigstens gibt Rot-Grün endlich zu, dass wir eine gewaltige Finanzierungslücke haben. Jedoch wollen sie nicht beim eigentlichen Problem ansetzen: Wir haben ein Ausgabenproblem, kein Einnahmenproblem.

Trotzdem wollen sie einfach mehr Geld in ein Fass ohne Boden werfen. Nur: Um die enormen Defizite zu decken, müsste beispielsweise die Mehrwertsteuer bis 2050 um etwa 2,2 Prozentpunkte erhöht werden. Das heisst: Unsere Mehrwertsteuer würde dann rund 10,3 Prozent betragen. Das zahlen alle ihr Leben lang bei jedem Einkauf.

Die Linken bezeichnen Ihre Initiative als unsozial. In vielen Berufen sei es streng genug, bis ins Alter von 65 Jahren zu arbeiten. Was antworten Sie?

Heute arbeiten viele Menschen im Dienstleistungssektor – auch ich zum Beispiel, nämlich als Rechtsanwalt. Für mich es ist ohne Weiteres zumutbar, bis 70 Jahre zu arbeiten. Jene, die in körperlich anspruchsvollen Branchen arbeiten, etwa im Baugewerbe oder in der Pflege, sollen hingegen nicht so lange arbeiten müssen. Dafür habe ich mich immer eingesetzt.

Dieselben Kreise sehen durch Ihr Anliegen gar die Frühpensionierungen gefährdet, zum Beispiel im Bauhauptgewerbe ab 60 Jahren. Sind diese Befürchtungen berechtigt?

Nein. Solche Branchenlösungen sind auch in Zukunft ohne Weiteres möglich und wichtig. Unsere Initiative regelt – wie auch heute – bloss den Grundsatz. Branchenlösungen können auch künftig sozialpartnerschaftlich ausgearbeitet werden.

Ein Argument gegen ein höheres Referenzalter ist auch, dass es für ältere Arbeitnehmer viel schwieriger sei, eine Stelle zu finden. Was sagen Sie dazu?

Was die Situation der über 55-Jährigen angeht, so wird die Situation deutlich schlechter gezeichnet, als sie in Tat und Wahrheit ist – nämlich sehr gut. Die Älteren hierzulande weisen eine hohe Erwerbstätigenquote auf. Die Arbeitslosenquote ist tief. Was stimmt: Das Risiko, länger als ein Jahr arbeitslos zu sein, steigt mit zunehmendem Alter. Aber: Das Risiko, langzeitstellensuchend zu werden, ist in den vergangenen Jahren in allen Altersgruppen deutlich zurückgegangen.

Zudem hat das Parlament endlich die Altersstrafe in der zweiten Säule wenigstens gemildert. Heute ist es leider so, dass die höheren BVG-Sparbeiträge manche Arbeitgeber davon abhalten, ältere Arbeitnehmer einzustellen. Im Rahmen der BVG-Revision, über die wir wohl im Sommer 2024 abstimmen werden, wurden die BVG-Sparbeiträge weniger stark abgestuft als bisher. Damit wären ältere Arbeitnehmer nicht mehr viel teurer als Junge. Diese Änderung geht in die richtige Richtung. Ich wäre sogar für einen Einheitssatz, womit alle Arbeitnehmer gleich teuer wären. Schliesslich dürfen wir nicht vergessen: Uns fehlen in den kommenden Jahren 500 000 Arbeitskräfte. Wir sind auf die älteren Arbeitskräfte dringend angewiesen: Sie sind das Gold unserer Gesellschaft und Wirtschaft.

Wie würde sich die Annahme der Renteninitiative auf die Jungen auswirken?

Die Renteninitiative würde der jahrelangen Defizit- und Schuldenwirtschaft der AHV endlich ein Ende bereiten. Die Jungen hätten endlich wieder eine Aussicht auf eine anständige Rente. Leider glauben heute viele Junge nicht mehr daran, dass sie dereinst eine Rente erhalten. Traurigerweise haben sie mit ihren Befürchtungen recht: Wenn wir die AHV nicht strukturell reformieren, droht diese finanziell auszubluten.

«Wir sind auf die älteren Arbeitskräfte dringend angewiesen: Sie sind das Gold unserer Gesellschaft und Wirtschaft.»

Im März kommt ebenfalls die Initiative für eine 13. AHV-Rente an die Urne: Weshalb ist deren Ablehnung wichtig?

Weil es eine unsoziale Initiative ist. Die Initiative fordert eine Erhöhung der AHV-Rente für alle Rentnerinnen und Rentner. Wegen dieses Giesskannenprinzips bekämen sogar Top-verdiener eine 13. AHV-Rente, obschon sie nicht darauf angewiesen sind. Das ist unvernünftig.

Abgesehen davon würde die Initiative ab 2026 zu Mehrkosten in Milliardenhöhe führen. Es bräuchte eine deutliche Erhöhung der Mehrwertsteuer beziehungsweise der Lohnabgaben, um die zusätzlichen Renten zu finanzieren. So müsste etwa die Mehrwertsteuer per 2026 auf 9,1 Prozent, also um einen Prozentpunkt, erhöht werden. Das trifft den Mittelstand besonders hart.

Interview: Rolf Hug

www.renten-sichern.ch

Zur Person

Matthias Müller ist noch bis Ende März Präsident der Jungfreisinnigen Schweiz. Er gilt als «Vater der Renteninitiative». Bei den Nationalratswahlen im letzten Herbst landete Müller im Kanton Zürich für die FDP auf dem ersten Ersatzplatz. Unlängst wurde er zum Vize-Präsidenten der kantonalzürcherischen FDP gewählt. Der 31-Jährige ist Rechtsanwalt bei Homburger AG und lebt in Zürich-Oerlikon.

www.mattmueller.ch

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