Publiziert am: 05.04.2024

«Eine Klärung ist überfällig»

CASIMIR PLATZER – «Gesamt­arbeits­verträge sind sorgfältig austarierte Gesamtpakete, welche das Arbeits­ver­hältnis über den Mindestlohn hinaus umfassend regeln», sagt der schei­den­de Präsident des Branchenverbands GastroSuisse. Und sorgt sich um die Zukunft der bewährten Sozial­partner­schaft.

Schweizerische Gewerbezeitung: Das Parlament hat einer Motion von Mitte-Ständerat Erich Ettlin zugestimmt, welche fordert, dass allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge (ave GAV) kantonalen und städtischen Mindestlöhnen vorgehen sollen. Die Kantone wehren sich dagegen. Wie erklären Sie sich das?

Casimir Platzer: Der Widerstand erstaunt mich. Erstens ist es überfällig, dass der Bund das Verhältnis zwischen kantonalen Vorgaben und ave GAV klärt. Dabei erhalten kantonale Vorgaben in den meisten Fällen Vorrang. Faktisch würden nur beim Mindestlohn allfällige Regelungen in ave GAV vorgehen. Und zweitens standen die Deutschschweizer Kantone lange dem Anliegen neutral bis positiv gegenüber. Offensichtlich solidarisieren sie sich nun mit den Kantonen Genf und Neuenburg, die auf die Barrikaden steigen.

In der Diskussion geht unter, dass weiterhin für alle Angestellten ein Mindestlohn gelten wird. Jedoch werden dort die Mindestlöhne der Branchen Vorrang vor kantonalen und kommunalen Mindestlöhnen haben, wo sie der Bundesrat für allgemeinverbindlich erklärt hat.

Weshalb ist es trotzdem wichtig, dass die Regelungen der Sozialpartner im Rahmen von solchen GAV den Vorrang geniessen?

Gesamtarbeitsverträge sind sorgfältig austarierte Gesamtpakete, welche das Arbeitsverhältnis über den Mindestlohn hinaus umfassend regeln. Einseitige kantonale Eingriffe, die einzelne Bestimmungen der ave GAV aushebeln, untergraben die Allgemeinverbindlicherklärungen des Bundesrates. Solche kantonalen Eingriffe führen zu einer Fragmentierung der arbeitsrechtlichen Bestimmungen und dazu, dass Sozialpartner vermehrt auf GAV verzichten werden. Wenn nämlich jeder Kanton an den ave GAV Hand anlegt, werden solche Vertragswerke obsolet.

Unter dem Deckmantel der kantonalen «Sozialpolitik» gelingt es den Gewerkschaften zunehmend, gemeinsam ausgehandelte Lösungen nachträglich auszuhebeln. Ist der kantonale Mindestlohn erst einmal festgelegt, können die Gewerkschaften auf branchenspezifische Abmachungen am Verhandlungstisch verzichten. Verhandlungen werden zunehmend ergebnislos bleiben. Dies würde das Ende der bewährten und erfolgreichen Sozialpartnerschaft einläuten.

Ein nationaler Mindestlohn scheiterte vor rund zehn Jahren krachend an der Urne. Nun versuchen Linke und Grüne dieses Anliegen in vielen Kantonen und Städten durchzubringen, zuletzt in Bern. Was halten Sie von diesem Vorgehen?

Das ist staatspolitisch sehr bedenklich und zeugt von schlechtem Demokratieverständnis. Das Vorgehen überrascht jedoch nicht. Es ist exemplarisch für die Doppelstrategie der Gewerkschaften und weckt Zweifel daran, wie sehr die Gewerkschaften noch hinter der Sozialpartnerschaft stehen.

Welche Auswirkungen hätte ein Mindestlohn auf Ihre Branche, die Gastronomie und Hotellerie?

In der Beherbergung und Gastronomie kennen wir schon lange Mindestlöhne, die seit 1998 im Landesgesamtarbeitsvertrag (L-GAV) allgemeinverbindlich sind. Die Auswirkungen staatlicher Mindestlöhne hängen stark von deren Höhe ab. Momentan sind die Auswirkungen gering. Jedoch könnte sich das rasch ändern. Wenn einmal ein kantonaler Mindestlohn beschlossen ist, wird dieser schrittweise steigen. Problematisch ist, dass solche jährlichen Erhöhungen weder von der Bevölkerung noch von den betroffenen Branchen bestimmt werden.

Man darf sich von den Lohnangaben im L-GAV auch nicht täuschen lassen. Das sind Mindestlöhne. Wer eine Ausbildung hat, kann deutlich mehr verlangen – und das wird auch bezahlt. Auch mit einer regulären Anstellung kann man anständig verdienen. Zudem sind Mindestlöhne nicht der Gradmesser, denn die Marktlöhne liegen weit über den Mindestlöhnen. Und diese sind stark angestiegen.

Generell: Wie wirkt sich ein Mindestlohn auf den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft aus?

Das hängt von der Ausgestaltung ab. Entscheidend ist, dass die Mindestlöhne abgestuft sind und damit das Ausbildungsniveau berücksichtigen. Andernfalls schwächen Mindestlöhne die Aus- und Weiterbildung.

Zudem ist die Sozialpartnerschaft ein Erfolgsmodell. Die Schweiz weist im internationalen Vergleich eine sehr tiefe Erwerbslosenquote auf. Lohnverhandlungen unter Sozialpartnern tragen dazu bei, indem sie den Realitäten jeder Branche gerecht werden. Schliesslich verfügen die Sozialpartner über umfangreiche branchenspezifische Kenntnisse.

Werden die umfassenden Vertragswerke hinfällig, würde dies die Arbeitsbedingungen insgesamt verschlechtern. Gute Arbeitgeber würden zunehmend darunter leiden, dass Konkurrenten die ehemals geltenden Mindestbestimmungen unterschreiten. Da fehlt mir der Weitblick aufseiten der Gewerkschaften.

Apropos Löhne: Kürzlich erschien die neuste Lohnstrukturerhebung des Bundes. Der Medianlohn im öffentlichen Sektor (Bund, Kantone, Gemeinden sowie staatsnahe Betriebe) beträgt laut Bundesamt für Statistik 8094 Franken. Das heisst, die Hälfte der Angestellten in der Verwaltung verdient mehr als diese 8094 Franken, die andere Hälfte weniger. In der Privatwirtschaft liegt der Medianlohn lediglich bei 6510 Franken. Was sagen Ihnen diese Zahlen?

Mit seinen hohen Löhnen konkurrenziert der Staat die Wirtschaft und die Berufsbildung zunehmend. In Kombination mit dem schnellen Wachstum staatlicher Sektoren verschärfen die staatlichen Löhne den Fachkräftemangel im Gewerbe erheblich. Dies in einer Zeit, in welcher der demografische Wandel und die fortschreitende Akademisierung uns bereits herausfordern. Der Bund sollte seine Lohnpolitik überdenken oder aber den Zugang zu ausländischen Arbeitsmärkten verbessern.

Sie treten im Sommer nach knapp zehn Jahren als Präsident von GastroSuisse zurück. Wenn Sie zurückblicken: Wie hat sich die Branche im vergangenen Jahrzehnt verändert?

Das Gastgewerbe hat sich in den letzten zehn Jahren gut entwickelt. Die Branche hatte unter den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 und der Frankenaufwertung gelitten. Sie befand sich lange in einer Rezession. Seit 2016 erholte sich die Branche jedoch schrittweise von dieser schwierigen Phase. Das Gastgewerbe wächst, gesamtschweizerisch gesehen. Die Covid-19-Pandemie und die Inflation stoppten zwar den Boom. Jedoch sind wir weit weg von einer Rezession wie vor über zehn Jahren.

Sie waren vor allem während den freiheitseinschränkenden Corona-Massnahmen sehr präsent. Wie beurteilen Sie Ihre Rolle im Rückblick?

Es ist nicht an mir, mein Wirken zu beurteilen, sondern Sache meiner Auftraggeber, den rund 20 000 Mitgliedern von GastroSuisse und der Verbandsgremien. Die zahlreichen Reaktionen zeigen mir, dass das Gastgewerbe den Einsatz von Gastro-Suisse honorierte. Unsere Interventionen waren notwendig in einer Zeit, in welcher viele Akteure der Wirtschaft, der Politik und der Zivilgesellschaft den Kopf wegduckten. Hätten sich GastroSuisse und der Schweizerische Gewerbeverband sgv ebenfalls so verhalten, wäre die Branche länger geschlossen geblieben und nicht im selben Umfang entschädigt worden. Es macht mich stolz, Präsident eines schlagkräftigen Branchenverbandes zu sein. Dabei mussten auch wir unsere Annahmen treffen, etwa zur epidemiologischen Entwicklung, dem Gästeverhalten und den Auswirkungen auf die Branche. Erfreulicherweise lagen wir in grundlegenden Fragen richtig: Für uns war klar, dass die Gäste nach einer Aufhebung des Shutdowns rasch wieder zurückkommen oder dass eine Null-Covid-Politik zum Scheitern verurteilt ist. Zu Beginn der Pandemie glaubten viele Experten das Gegenteil.

Derzeit ĂĽberarbeitet der Bund das Epidemiengesetz. Ist er damit auf dem richtigen Weg?

Die Covid-19-Pandemie zeigte schonungslos die Mängel im Epidemiengesetz auf. Es wäre eine verpasste Chance, die gemachten Lehren nicht ins Gesetz zu übertragen. Mit der laufenden Revision ist der Bund grundsätzlich auf dem richtigen Weg. Allerdings fiel der Vernehmlassungsentwurf enttäuschend aus. Mitunter fehlt weiterhin eine klar geregelte finanzielle Entschädigung bei erheblichen Einbussen von Unternehmen und Selbständigerwerbenden infolge behördlicher Einschränkungen. Das erstaunt angesichts des positiven Fazits des Bundes über die Härtefallhilfen, nachzulesen im Bericht der EFK zur Wirkung der Covid-19-Härtefallmassnahmen vom 22. Dezember 2023. Eine geregelte Entschädigung verhindert Verzögerungen im Krisenfall, verschafft der Politik den nötigen Handlungsspielraum in der Krise und trägt dazu bei, dass sich der Staat besser auf eine Epidemie vorbereitet. Damit dieser das Potenzial von wirtschaftsverträglicheren Massnahmen wie Contact Tracing, Schutzkonzepten und Teststrategien ausschöpft, müssen die äussersten Mittel wie Branchenschliessungen ein Preisticket haben.

Zum Schluss: Was sind die grössten Herausforderungen für die Gastronomie in naher Zukunft? Und was erhoffen Sie sich von der Politik?

Die grössten Herausforderungen bleiben die steigenden Sozialabgaben und Mehrwertsteuern, der Fachkräftemangel und sinkende Gewinnmargen infolge der Inflation. Von der Politik erhoffe ich mir mehr Verständnis für die Anliegen und die wirtschaftliche Bedeutung des Gewerbes. Wir sind und bleiben das Rückgrat der Schweizer Wirtschaft.

Interview: Rolf Hug

www.gastrosuisse.ch

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