Publiziert am: 05.04.2024

Schritt zur Emanzipation von der EU

FREIHANDEL – Einige bejubeln es als revolutionär. Andere begegnen ihm mit Skepsis. Nach über 16 Jahren und 21 Verhandlungsrunden ist das Freihandelsabkommen mit Indien unter Dach und Fach. Doch was ist dessen Nutzen?

Am 10. März war es so weit. Die vier Mitglieder der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA – die Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein – unterzeichneten das Freihandelsabkommen (FHA) mit Indien. Die vier kleinen europäischen Staaten haben sich verpflichtet, 100 Milliarden Dollar (87,6 Milliarden Franken) in das südasiatische Land zu investieren und innerhalb von 15 Jahren eine Million Arbeitsplätze zu schaffen.

Im Gegenzug erklärt Indien, dass es die sehr hohen Zölle auf gewerbliche Einfuhren – ausgenommen Gold – entweder sofort oder im Laufe der Zeit teilweise aufheben wird. Was die EFTA-Staaten an Indien lockt, ist dessen Grösse: Im Jahr 2023 wurde Indien mit 1,4 Milliarden Menschen zum bevölkerungsreichsten Land der Welt, und es verzeichnete ein Wirtschaftswachstum von 8,4 Prozent.

Mit China immer komplizierter

Die Schweizer Unternehmen sind an der Zukunft Indiens interessiert. Sie meinen, die Wirtschaft im Subkontinent werde kontinuierlich wachsen. Ebenso wird auf die kontinuierliche Ausdehnung des indischen Mittelstands gewettet. Und dann suchen Schweizer Firmen eine Alternative zu China, mit welchem der Austausch stetig komplizierter wird.

Heute ist Gold das wichtigste Handelsgut zwischen der Schweiz und Indien. Das Schweizer Handelsvolumen (Exporte plus Importe) mit Indien betrug im Jahr 2017 um die 17,7 Milliarden Franken. Nimmt man das Edelmetall aus der Rechnung, schrumpfen die Zahlen auf knapp ĂĽber vier Milliarden Franken.

Für das Freihandelsabkommen ist aber die Zukunft wichtig. Entsprechend sieht das Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) zukünftige Chancen für Schweizer Firmen in den Bereichen Infrastruktur, Bauwesen, Luxusgüter, Digitalisierung, saubere Technologien und Elektromobilität. Landwirtschaftliche Güter sind nicht Teil des Abkommens.

Indien will Investitionen

Die indische Regierung unter Premierminister Narendra Modi ist vor allem an Investitionen interessiert. Sie knüpft ihr Bestehen an Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum. So hat sie zum Beispiel ein ambitioniertes Industrialisierungsprogramm initiiert: «Make in India.»

Bei der Vertragsunterzeichnung betonte Modi Indiens Interesse am Export von Gütern aus den Bereichen IT, Unternehmensdienstleistungen, Bildung, Pharmazeutika, Bekleidung, Chemikalien und Maschinen. Allerdings kann das auch als reine Rhetorik abgetan werden. Denn das geistige Eigentum ist die eigentliche Knacknuss des Abkommens – und des Handels mit Indien im Allgemeinen. Um sich entwickeln zu können, möchte Indien Lockerungen an den Garantien des geistigen Eigentums durchsetzen. Delhi beklagt nämlich, dass geistiges Eigentum einem Monopol der entwickelten Länder gleichkomme (was ökonomisch gesehen nicht falsch ist). Der EFTA gelang es aber, dessen Schutz auch in diesem Abkommen zu stärken.

Ein Signal – auch an die EU

Was aber für ein Freihandelsabkommen zwischen der EFTA und Indien spricht, ist die geopolitische Komponente. Die vier Mitglieder der Freihandelsassoziation sind die ersten europäischen Länder mit einem FHA mit Indien. Das ist ein weiterer Schritt dieser Länder, sich von der EU zu emanzipieren. Ebenso ist es ein Schritt in Richtung Diversifikation der wirtschaftlichen Aussenbeziehungen.

«Was für ein Freihandels-abkommen spricht, ist die geopolitische Komponente.»

Für Indien ist das FHA eine Möglichkeit, ein weiteres Signal gegen China zu setzen. Delhi will nämlich Peking auf der internationalen Handelsbühne übertrumpfen. Zudem ist es auch ein Signal an die EU, die sich allgemein schwer tut mit dem Freihandel. Ein Freihandelsabkommen mit Indien bringt also allen Beteiligten viel – wenn auch jeweils Unterschiedliches.

Henrique Schneider

Meist Gelesen