Publiziert am: 05.07.2024

«Eigenverantwortung sinkt»

KURT GFELLER – Nach einer Lehre als Metzger und einem Studium als lic. rer. pol. trat der Seeländer 1992 in den Dienst des Schweizerischen Gewerbe­ver­bands sgv. Nach 32 Jahren Arbeit zugunsten der KMU sagt der Sozial­ver­sicherungsexperte: «Die Corona­­pandemie war die grösste Heraus­forderung.»

Schweizerische Gewerbezeitung: 27 Jahre lang haben Sie sich im Schweizerischen Gewerbeverband sgv um sozialpolitische Themen gekümmert. Wie hat sich der Sozialstaat Schweiz in all diesen Jahren verändert?

Kurt Gfeller: Die Ansprüche an den Staat und an die Sozialversicherungen sind stetig gestiegen. Eigenverantwortliches Handeln ist nicht mehr Trumpf. Und an der Urne wird immer häufiger eigennützig abgestimmt.

Welches waren aus gewerblicher Sicht die wichtigsten sozialpolitischen Weichenstellungen in den letzten drei Jahrzehnten?

Ins Auge stechen hier natĂĽrlich die Mutterschaftsversicherung und der Vaterschaftsurlaub, die neu eingefĂĽhrt wurden. Daneben wurde das Netz der sozialen Absicherung in praktisch allen Bereichen deutlich feinmaschiger.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung bei Sozialhilfe und IV, wie sie in den vergangenen 15 bis 20 Jahren stattgefunden hat? Ist hier tatsächlich so etwas wie eine «Sozialindustrie» entstanden?

Bei der IV ist einerseits eine recht positive Entwicklung festzustellen, indem die Anstrengungen zur Wiedereingliederung auf- und stark ausgebaut wurden. Und das dank dem grossen Engagement vieler Betriebe auch mit Erfolg.

Bei der Sozialhilfe muss festgestellt werden, dass immer mehr Junge den Einstieg ins Berufsleben gar nicht schaffen oder von Beginn an auf UnterstĂĽtzung angewiesen sind. Hier wurden natĂĽrlich auch Jobs geschaffen, die nur dann garantiert sind, wenn der Zulauf nicht abebbt.

Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen dem Anstieg der Migration in die Schweiz und der steigenden Anzahl von SozialhilfebezĂĽgern?

Einen sehr direkten Zusammenhang gibt es zwischen Bildung und Sozialhilfebezug. Wer gut ausgebildet ist, gehört in der Regel zu jenen, die unser Sozialversicherungssystem querfinanzieren und eher selten in der Sozialhilfe landen. Gut ausgebildete Migranten entlasten daher in der Regel unseren Sozialstaat, schlecht qualifizierte belasten ihn.

Im November 2018 haben die Schweizer Stimmberechtigten Ja gesagt zur Überwachung von Versicherten. Inwiefern haben sich diese «IV-Detektive» im Kampf gegen den Missbrauch von Sozialhilfe bisher bewährt?

Meine Erfahrungen aus der Unfallversicherung zeigen mir, dass die Resultate durchaus positiv sind. Es wird nur selten observiert, dann aber meist mit «Erfolg». Damit lassen sich rasch grössere Beträge einsparen. Wichtig ist vor allem die abschreckende Wirkung. Betrüger dürfen sich nicht sicher fühlen.

Nebst der Sozial- war auch die Gesundheitspolitik Ihre Domäne. Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Gesundheitskosten seit der Einführung der obligatorischen Krankenversicherung im Jahr 1996?

Die steigenden Gesundheitskosten sind eine der grössten Herausforderungen, die sich uns stellen. Einerseits lässt sich das überdurchschnittliche Kostenwachstum begründen. Eine alternde Gesellschaft führt überall zu höheren Gesundheitskosten. Und der medizinisch-technische Fortschritt ist ein Segen, hat aber auch seinen Preis. Störend sind die Ineffizienzen im System. Diese müssen unbedingt angegangen werden.

Sie haben es bereits erwähnt: Die Ansprüche ans Gesundheitswesen sind in den vergangenen Jahren immer stärker gestiegen. Was sind die Folgen – gerade auch für die KMU –, wenn das so weitergeht?

Ja, die Ansprüche an unser Gesundheitswesen sind sehr hoch. Abstriche will niemand machen. Daher blieb die Kostenbremse in der Volksabstimmung vom 9. Juni chancenlos. Dies zu Recht, denn der Vorschlaghammer ist das falsche Instrument, um unser Gesundheitswesen zu reformieren. Bedenklich ist, dass man je länger je weniger bereit ist, den Preis für ein qualitativ hochstehendes Gesundheitswesen zu bezahlen. Für viele wird das trotz Prämienvergünstigungen auch immer schwieriger. Daher war es keinesfalls selbstverständlich, dass die Prämien-Entlastungs-Initiative ebenfalls abgelehnt wurde. Sicher ein weiser Entscheid der Stimmberechtigten. Etliche gravierende Probleme bleiben aber weiterhin ungelöst.

«AN DER URNE WIRD IMMER HÄUFIGER EIGENNÜTZIG ABGESTIMMT.»

Die steigenden Gesundheitskosten stellen auch für die KMU eine Belastung dar. Einerseits sind auch die Unternehmer Prämienzahler. Andererseits treibt das starke Prämienwachstum die Lohnforderungen der Gewerkschaften in die Höhe. Und schlussendlich verringern höhere Prämienlasten die Kaufkraft der Konsumenten. Auch die KMU haben damit ein vitales Interesse an einer Eindämmung des Prämienwachstums.

Stichwort Anspruchshaltung: 2004 hat sich der damalige sgv-Direktor, FDP-Nationalrat Pierre Triponez, fĂĽr die Mutterschaftsversicherung eingesetzt. Heute gibt es einen Vaterschaftsurlaub, und linke Kreise verlangen laufend dessen Ausbau. Wurde vor 20 Jahren ein Fehler begangen, ein Fass ohne Boden kreiert?

Nein, das sehe ich nicht so. Bei der Mutterschaftsversicherung hatten wir das Problem, dass der Staat den Müttern ein achtwöchiges Arbeitsverbot auferlegt hat, die daraus entstehenden Lohneinbussen aber in vielen Fällen ungedeckt blieben. Hier bestand effektiv Handlungsbedarf. Dass eine paritätische Finanzierung und gleichzeitig auch ein Ausbau der bisherigen EO-Leistungen verlangt wurde, war ein genialer Schachzug von Pierre Triponez.

Den Vaterschaftsurlaub hätte es natürlich nicht gebraucht. Dennoch darf man feststellen, dass sich der Ausbau im EO-Bereich bisher in Grenzen hielt.

Vor genau vier Monaten sagte die Schweiz Ja zu einer 13. AHV, obwohl deren Finanzierung völlig unklar ist. Täuscht der Eindruck, dass – anders als noch vor wenigen Jahren – heute eine Mehrheit der Stimmbürger bei sozialpolitischen Entscheiden in erster Linie an sich selbst denkt?

Den Eindruck habe ich auch. 2012 stimmten auch die Arbeitnehmenden mehrheitlich gegen sechs Wochen Ferien, weil sie das übergeordnete Ganze mitberücksichtigten. Diesen Frühling war das bei den Rentnern nicht mehr der Fall. Auch viele gut betuchte Rentner hatten plötzlich das Gefühl, dass sie eigentlich Anspruch auf eine 13. AHV-Rente hätten. Dass diese von ihren Kindern und Enkelkindern finanziert werden muss, denen es in vielen Fällen finanziell schlechter geht, wurde verdrängt.

Richten wir den Blick nach vorne: Welches sind die wichtigsten Herausforderungen, die in den kommenden Jahren auf das Sozialsystem der Schweiz zukommen werden?

Die demografische Entwicklung stellt insbesondere die AHV vor grosse Herausforderungen. Ist man nicht endlich bereit, das Rentenalter generell anzuheben, kommt eine erhebliche finanzielle Mehrbelastung auf uns zu. Auch die Finanzierung unseres Gesundheitswesens wird immer anspruchsvoller. Hier werden sich unbequeme und schwierige Fragen stellen. Wollen und können wir uns wirklich noch alles leisten, was medizinisch machbar ist?

Und daneben wird weiterhin daran gearbeitet, das Netz der sozialen Absicherung weiter auszubauen. Stichworte sind hier etwa ausgedehnte Elternurlaube, Ausbau der familienexternen Kinderbetreuung auf dem Buckel der Betriebe oder die EinfĂĽhrung einer obligatorischen Krankentaggeldversicherung.

Was war das prägendste Ereignis in Ihren insgesamt 32 Jahren beim sgv?

Sicher die Coronapandemie. Da sind Dinge auf uns eingeprasselt, die ich vorher für undenkbar hielt. Dass plötzlich ganze Wirtschaftsbereiche geschlossen wurden und wir uns in unseren persönlichen Freiheiten so stark einschränken mussten, hätte ich mir in den schlimmsten Träumen nicht ausmalen können.

Corona stellte auch für die Verbände eine enorme Herausforderung dar. Gleichzeitig bot die Pandemie aber auch die Chance, viel für die Mitglieder herauszuholen. Dank den von den Verbänden erarbeiteten Schutzkonzepten konnten viele Branchen rasch wieder öffnen.

«Ist man nicht endlich bereit, das Rentenalter generell anzuheben, kommt eine erhebliche finanzielle Mehrbelastung auf uns zu.»

Rückblickend bin ich immer noch erstaunt, wie widerstandsfähig unsere Wirtschaft und unsere Betriebe waren. Ich hätte das so nicht für möglich gehalten. Sicher gab es Opfer. Dennoch haben es Wirtschaft und KMU geschafft, binnen kurzer Zeit vom absoluten Stillstand zur Hochkonjunktur mit ausgeprägtem Fachkräftemangel durchzustarten. Das war extrem eindrücklich.

Sie haben nicht nur die Politik, sondern auch die Entwicklung des grössten Dachverbands der Schweizer Wirtschaft während einem Drittel eines Jahrhunderts hautnah miterlebt: Wie unterscheidet sich der Schweizerische Gewerbeverband von 2024 von jenem im Jahr 1992?

Die Verbandsstrukturen sind sehr ähnlich geblieben. Die Denkweise vieler Verbandsvertreter hat sich aber deutlich verändert. Früher waren es eher ältere, konservativ denkende Semester, die den Ton angaben. Heute trifft man viel öfter auf junge, innovativ denkende Verbandspolitiker. Das ist auch gut so. Die Welt bewegt sich immer schneller und lässt sich nicht bremsen. Nur wer in der Lage ist, dieses Tempo mitzugehen und sich laufend anzupassen, wird erfolgreich sein. Und diesen Erfolg wünsche ich dem sgv, seinen Mitgliedverbänden – und vor allem auch den bei ihnen angeschlossenen Betrieben – von Herzen.

Interview: Gerhard Enggist

www.sgv-usam.ch/schwerpunkte/sozialpolitik

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