Publiziert am: 22.11.2024

Die Schweiz kann sparen, wenn sie muss

Es ist mittlerweile bekannt: Die Finanzpolitik des Bundes ist aus den Fugen geraten. In den Finanzplänen stehen milliardenschwere strukturelle Defizite – Tendenz steigend. Besorgt fragen viele Bürger: Weiss denn die Schweiz überhaupt noch, wie man spart? In den letzten Jahren hat die Finanzpolitik schliesslich vor allem aus der Addition von Wünschbarem bestanden. Die Antwort ist trotzdem klar: Ja, sie kann nicht nur, es ist die Pflicht der gewählten Politiker, das Budget mittelfristig auszugleichen. So verlangt es die Schuldenbremse. So verlangt es die Verfassung, auf die Politiker ihren Eid ablegen.

Ein prominentes Beispiel erfolgreichen Sparens, das ich zusammen mit dem Zürcher Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann in einer Verlagsbeilage in der «NZZ» näher angeschaut habe, waren die Entlastungsprogramme, die im Rahmen der Einführung der Schuldenbremse im Jahr 2003 notwendig wurden, um einen strukturell ausgeglichenen Haushalt zu etablieren. Was war der Hintergrund?

Die finanzpolitische Ausgangslage des Bundes verdüsterte sich in den 1990er-Jahren mit einer hartnäckigen Rezession. Als Bundesrat Otto Stich im Dezember 1991 die Verlängerung der 1994 auslaufenden Finanzordnung anging, stellte er schonungslos fest: «Die Perspektiven […] bieten vollends das Bild eines strukturell überlasteten Haushaltes.» Die Defizite alleine mit der Rezession erklären zu wollen, bezeichnete der Finanzminister als Selbsttäuschung: «Die Defizite des Bundeshaushalts sind vorab Resultat der zügellosen Ausgabenpolitik.»

Die Finanzpolitik des Bundes wurde zusehends dysfunktional. Die Schuldenquote gemessen an der Wirtschaftskraft verdoppelte sich zwischen 1990 und 1995 von 10,7 auf 20,3 Prozent. Die Staatsquote stieg im selben Zeitrahmen von 8,8 auf 10 Prozent, wobei der Anteil des Schuldendienstes an den Bundesausgaben von 3,2 auf 7,6 Prozent zunahm. Für eine Volkswirtschaft, die traditionell solide Staatsfinanzen zu ihren Tugenden zählt, war dies eine bedrückende Entwicklung.

Otto Stichs Nachfolger im Finanzressort kündigte unmittelbar nach Amtsübernahme einen finanzpolitischen Kurswechsel an. Bundesrat Kaspar Villiger schrieb im Rückblick dazu: «Schon bald nach Übernahme des Eidgenössischen Finanzdepartements im Jahr 1995 kam ich zur Einsicht, dass die herkömmliche Methode des postenweisen Sparens nicht zielführend war und dass es eines strategischen Ansatzes bedurfte.» Unter Kaspar Villiger wurde ein grundsätzliches Sanierungskonzept mit einem übergeordneten Finanzleitbild (1999) erarbeitet. Die Sanierungsstrategie sah vor, zunächst mit dem «Haushaltsziel 2001» das strukturelle Defizit zu beseitigen, wozu der Budgetausgleich bis 2001 verfassungsmässig vorgeschrieben wurde. Umgesetzt wurde das Ziel mit dem «Stabilisierungsprogramm 98» im Umfang von rund zwei Milliarden Franken (0,5 Prozent des BIP), das primär auf der Ausgabenseite bei der sozialen Sicherheit, dem öffentlichen Verkehr und der Landesverteidigung ansetzte. Ziel war es, die Defizitwirtschaft der 1990er-Jahre mit dem Haushaltsziel 2001 so auszubalancieren, dass man mit der in der Verfassung zu verankernden Schuldenbremse als letzte Etappe ab 2003 die Bildung eines neuen strukturellen Defizits verhindern konnte.

In der Volksabstimmung vom Dezember 2001 gelang es tatsächlich, mit 85 Prozent eine extrem hohe Zustimmung zur Schuldenbremse zu erhalten. Bei der Schuldenbremse handelt es sich um eine einfach verständliche Ausgabenregel, mit der die Staatsquote beschränkt wird. Sie verlangt den Ausgleich der Finanzierungsrechnung über einen Konjunkturzyklus, wodurch die nominellen Schulden im ordentlichen Haushalt langfristig stabil bleiben. Während eine Zuwiderhandlung einen automatischen Sanktionsmechanismus auslöst, ermöglicht eine Ausnahmeregel bei ausserordentlichen Ereignissen wie einer schweren Rezession oder einer Naturkatastrophe die Erhöhung des Ausgabenplafonds. Der ausserordentliche Haushalt unterliegt seit 2008 einer Ergänzungsregel, die auch die Schulden aus den ausserordentlichen Ereignissen über eine Frist von sechs Jahren amortisiert. Im Fall der Schulden aufgrund der Covid-Pandemie wurde der Amortisationszeitraum allerdings auf das Jahr 2035 erstreckt. Im Ergebnis von Finanzierungsrechnung und ausserordentlicher Rechnung steigt die Schuldenquote seit 2019 wieder an.

Um die Finanzpolitik langfristig nachhaltig auszurichten, wurde mit der Schuldenbremse vor 20 Jahren ein neuer Weg beschritten. Institutionelle Mechanismen, die der längerfristigen Verbesserung der Haushaltslage des Bundes dienen sollten, hat es immer wieder gegeben. Jedoch blieben die Deckungsklauseln der Finanzprogramme 1933 und 1936, die Ausgabenbremsen von 1951/54, 1955/58, 1975/79 und die dauerhafte Ausgabenbremse von 1995 wirkungslos. Der zentrale Grund dafür lag in den weitgehend wirkungslosen Sanktionsmechanismen. Dies änderte sich mit der Schuldenbremse, die mit dem Ausgleichskonto ein finanzpolitisches «Gedächtnis» erhielt und so den Sanktionsmechanismus transparent institutionalisierte.

Trotzdem: Im Jahr vor der Einführung der Schuldenbremse hatte sich unerwartet eine weitere strukturelle Finanzierungslücke geöffnet, die durch das Haushaltsziel 2001 nicht adressiert worden war. Dies rief mit dem Entlastungsprogramm 2003 (EP 03) nach umfassenden Gegenmassnahmen. Die Haushaltsverbesserungen umfassten knapp 6,5 Milliarden Franken. Davon entfielen 82 Prozent auf ausgabenseitige Massnahmen, die sich schwergewichtig auf die sechs grossen Aufgabengebiete Soziale Wohlfahrt, Verkehr, Landesverteidigung, Landwirtschaft, Bildung und Forschung sowie Beziehungen zum Ausland verteilten. Zur Berücksichtigung der schwierigen konjunkturellen Lage sollte das Entlastungsprogramm 2003 (EP 03) allerdings etappiert umgesetzt werden.

Bereits eineinhalb Jahre späterwurde klar: Das Ziel des dauerhaften Ausgleichs konnte mit dem EP 03 nicht erreicht werden. Für einen nachhaltigen Ausgleich des Bundeshaushalts im Sinne der Schuldenbremse bedurfte es weiterer Sanierungsschritte. Kurzfristig war ein zusätzliches Entlastungsprogramm 2004 (EP 04) sowie langfristig eine Aufgabenverzichtsplanung (AVP) nötig, die primär die Funktionsausgaben (Personal-, Sach-, Investitionsausgaben) adressierte.

Das jährliche Ausgabenwachstum 2004–2008 sollte damit auf durchschnittlich 2,2 Prozent zurückgenommen werden. Zwar immer noch eine klare Wachstumsrate, die das Wachstum der Wirtschaft übertraf, aber verglichen mit den 1990er-Jahren entsprach dies beinahe einer Halbierung des Ausgabenzuwachses. Ausser in den Bereichen Zinsbelastung, Sozialpolitik, Bildung und Verkehr sollten in den kommenden Jahren die übrigen Aufgabengebiete real stabilisiert oder – teils sogar nominal – zurückgefahren werden. Damit gelang der mit der Schuldenbremse konforme Haushaltsausgleich durch eine mehrjährige und mehrere Massnahmen umfassende und disziplinierte finanzpolitische Strategie.

Dabei ist interessant, die konjunkturelle Entwicklung vor und während der Konsolidierung zu verfolgen. In der wissenschaftlichen Literatur wird das Schweizer Sparprogramm 2003–2008 nicht nur als erfolgreich, sondern auch als expansiv qualifiziert. Das heisst, entgegen der Standardkritik, dass Sparprogramme grundsätzlich rezessiv wirkten, kennzeichnet sich die Schweizer Episode als «nicht-keynesianisch». Das Wachstum der Wirtschaft verdoppelte sich im Durchschnitt während der Konsolidierungsphase von 1,4 auf 3,2 Prozent. Dies verglichen mit der Vorperiode. Ein eindrückliches Ergebnis.

Das Ganze war ein Kunststück der ökonomischen Disziplin, das der Schweiz gelang – mit der erfreulichen Botschaft: Man kann, wenn man muss.

*Prof. Dr. Christoph A. Schaltegger ist Direktor des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern

www.iwp.swiss/team

www.iwp.swiss/institut

www.wirtschaftsbildung.ch/schaltegger-christoph.html

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