Die demografische Alterung verändert unsere Gesellschaft tiefgreifend. Die Lebenserwartung bei guter Gesundheit steigt. Das ist eine unbestreitbare Verbesserung, die durch medizinische Fortschritte, optimalere Lebensbedingungen und ganz grundsätzlich durch die Entwicklung und Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft ermöglicht wird. Dennoch stellt dieser Umbruch das Gleichgewicht zwischen Erwerbstätigen und Rentnern infrage und übt zunehmend Druck auf unser Vorsorgesystem und unseren Arbeitsmarkt aus.
Als die AHV eingeführt wurde, bedeutete die Pensionierung oft den Beginn des Alters und der Abhängigkeit. Heute hat sich diese Wahrnehmung gewandelt. Das «dritte Alter» ist zu einem Synonym für Autonomie und Aktivität geworden, während sich die wahre Gebrechlichkeit erst im «vierten Alter» zeigt. Diese Entwicklung ist zwar erfreulich, stellt uns aber auch vor eine grosse Herausforderung: Ohne Anpassung wird die Belastung für Erwerbstätige und Unternehmen untragbar werden.
Wachstum wird gebremst
Im Jahr 1995 kamen auf einen Rentner vier Erwerbstätige. Dieses Verhältnis sank bis 2020 auf 3,2 und wird bis 2050 voraussichtlich auf 2,1 fallen. Eine solche Entwicklung bedroht die finanzielle Nachhaltigkeit der AHV und verschärft die Spannungen zwischen den Generationen. Um dieses Ungleichgewicht auszugleichen, werden Arbeitnehmer und Unternehmen eine steigende Steuerlast tragen müssen. Das birgt das Risiko, dass das Wachstum, die Investitions- und die Innovationsfähigkeit gebremst und die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft geschwächt werden. Die Kaufkraft dürfte dabei erodieren.
«Die Verlängerung des Arbeitslebens beinhaltet bessere Arbeitsbedingungen für ältere Menschen.»
Der wirtschaftliche Wohlstand, der erst wesentlich zur höheren Lebenserwartung beigetragen hat, würde dadurch gefährdet. Denn die Schweiz hat ihren Wohlstand auf einem dynamischen Arbeitsmarkt und einem soliden Vorsorgesystem aufgebaut. Wenn die Kosten für Renten und Pflegebedürftigkeit jedoch ohne Anpassung der Lebensarbeitszeit explodieren, wird es immer schwieriger, diese zu finanzieren. Eine Verschlechterung der Wirtschaftslage würde unsere Fähigkeit schwächen, den Zugang zu einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung zu gewährleisten, und den medizinischen Fortschritt verlangsamen, der bislang unsere Langlebigkeit verbessert hat.
Anpassung in mehreren Ländern
Angesichts dieser Realität erscheint eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit als eine Notwendigkeit. Mehrere europäische Länder wie Deutschland und die Niederlande haben bereits das Renteneintrittsalter angehoben, um sich an die demografische Entwicklung anzupassen. Eine solche Anpassung würde den Fortbestand des Vorsorgesystems sichern und gleichzeitig die Anstrengungen zwischen den Generationen gerechter verteilen. Dieser Übergang kann jedoch nicht ohne eine an die Realitäten der Arbeitswelt angepasste Begleitung gelingen.
Die Verlängerung des Arbeitslebens beschränkt sich dabei nicht auf die Anhebung des Rentenalters, sondern muss auch bessere Arbeitsbedingungen für ältere Menschen beinhalten. Ergonomische Arbeitsplätze, flexible Arbeitszeiten und geeignete Formen der Arbeitsorganisation, wie Teilzeitarbeit und Mentoring, würden einen schrittweisen Übergang erleichtern. Diese Massnahmen würden die Beschäftigungsfähigkeit älterer Menschen erhalten und die Weitergabe von Wissen fördern.
Gleichgewicht erhalten
Die Schweiz hat ihren Erfolg auf einem Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher Dynamik und sozialem Zusammenhalt aufgebaut. Eine schrittweise Anpassung der Lebensarbeitszeit wird es ermöglichen, dieses Gleichgewicht zu erhalten und die Nachhaltigkeit des Vorsorgemodells zu sichern, während gleichzeitig ein hoher Lebensstandard für alle Generationen aufrechterhalten wird.
Ein längeres Leben bei guter Gesundheit ist eine wertvolle Errungenschaft. Allerdings muss sich unsere soziale und wirtschaftliche Organisation entsprechend weiterentwickeln. Die Schweiz hat sich den grossen Herausforderungen ihrer Zeit stets pragmatisch gestellt. Die schrittweise Anpassung des Erwerbslebens bildet hier keine Ausnahme.
Simon Schnyder, Ressortleiter sgv