Publiziert am: 25.01.2019

«Alt wird man, jung kann man bleiben»

ARBEITEN IM ALTER – Der 72-jährige Werner Rüegger arbeitet gerne und praktisch jeden Tag – obwohl er gar nicht muss. Mit Leidenschaft und Herzblut gibt er sein Wissen an KMU im Arbeitsmarkt weiter und hat dafür eigens die Plattform kompetenz60plus.ch gegründet.

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«Es gibt immer noch Menschen, die zahlen mit dem ‹Büechli› ein oder haben keine E-Mail-Adresse»: Der 72-jährige Werner K. Rüegger schüttelt ungläubig sein mit silbergrauem Haar bedecktes Haupt. «Alt wird man einfach. Das ist blöd, da kann ich nichts dafür», sagt der ehema-­lige Architekt. Er zieht die Augenbrauen hoch, seine Stirn legt sich in Falten, dann tippt er sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe: «Es gibt auch 30-Jährige, die im Kopf schon längst abgeschaltet haben.» Für den gebürtigen Basler ist das Alter nur eine Zahl. «Bei Menschen mit Visionen spielt das Alter keine Rolle. Auch wenn mich Gleichaltrige manchmal als Luftibus bezeichnen…»

Der Arbeitsmarkt braucht Alte

Die Babyboomergeneration – Menschen, die zwischen 1946 und Mitte der 1960-er geboren sind – kommt nach und nach ins Rentenalter. «Um den Verlust an Fachkräften zu kompensieren, greifen Unternehmen zunehmend auf Pensionierte zurück», sagt Altersforscher François Höpflinger(siehe Interview).

Motivierte Pensionierte wie Werner Rüegger dürften besonders gesucht sein. «Wenn man mit Sechzig pensioniert wird, dann hat man noch zwanzig, dreissig Jahre vor sich. Was macht man dann?», fragt er. «Ich kann nicht einfach nichts tun.»

Der Ü 50-Irrtum

Mit 63 übernahm Werner Rüegger die Geschäftsführung der Schweizer Baumuster-Centrale Zürich. Einer Materialsammlung mit über zweitausend Baumaterialien, Konstruktionssystemen und Technologien. Architekten und andere Akteure des Schweizer Bauwesens geben sich hier wortwörtlich die Klinke in die Hand. Rüegger führte die marode gewordene Genossenschaft, die ohne staatliche Mittel auskommt, auf die Erfolgsspur zurück.

Dass sich Menschen über 60 noch einmal einer neuen Tätigkeit verschreiben, ist nicht selbstverständlich, obwohl wir immer länger arbeiten (siehe Kasten). Und dann hält sich hartnäckig das Gerücht, dass Arbeitnehmer über 50 oft entlassen und arbeitslos werden. Ein Irrtum! Arbeitnehmer 50+ sind unterdurchschnittlich oft von Arbeitslosigkeit betroffen, wie Zahlen des Staats­sekretariats für Wirtschaft (Seco) belegen. Richtig ist lediglich, dass die Altersgruppe Ü 50 länger arbeitslos bleibt, wenn die Stelle dann effektiv verloren geht.

«Alt wird man einfach. Das ist blöd, da kann ich nichts dafür.»

Man müsse sich von der Vorstellung verabschieden, dass im Alter der Lohn kontinuierlich steige, «solange man selber keinen Mehrwert bringt», nimmt Werner Rüegger die älteren Arbeitnehmer in die Pflicht.

Experten fordern zudem flexiblere Pensionierungs- und Karrieremo­delle, um das Arbeiten im Alter für Arbeitnehmer und Arbeitgeber attraktiver zu gestalten.

Jahrgangsbester im Golden State

«Ich litt früher unter Minderwertigkeitskomplexen», spricht Rüegger offen über seine Anfänge in der Berufswelt. Seine Chefs hätten allesamt hohe Ausbildungen gehabt und mehrere Fremdsprachen gesprochen. Mit 27 wollte er es wissen, packte seine Koffer und zog für ein Architekturstudium nach London. Er verliebte sich und war der englischen Sprache dank seiner Freundin schon bald mächtig.

«Bei Menschen mit Visionen spielt das Alter keine Rolle.»

Überraschend erhielt er ein Job­angebot eines Architekturbüros aus Little Rock, Arkansas in den USA. «In Amerika zu arbeiten, war schon immer mein Wunsch gewesen», erzählt der Wahlzürcher mit glänzenden Augen. 1977 schloss er sein Masterstudium in Architektur und Städtebau an der University of California in Los Angeles als Jahrgangsbester ab. Die Distanz zu Familie und Heimat bereitete ihm kaum Mühe. «Ich hatte nie viele Freunde. Mein soziales Umfeld baute stets auf meiner beruflichen Tätigkeit auf.»

«Niemals die Jungen belehren»

Als Werner Rüegger 2016 die Geschäftsleitung der Baumuster-Centrale abgab, nahm er diverse Beratungsmandate an. Die Absichten dahinter waren ihm aber zu unkonkret. «Ich möchte den KMU im Arbeitsmarkt helfen. Eine häufige Problemstellung ist die Nachfolgeregelung. Das hat mich motiviert, die Plattform kompetenz60plus.ch zu gründen.» Der Name ist nicht Programm. Sie steht nämlich allen älteren Menschen offen, die ihr Wissen dem Arbeitsmarkt anbieten möchten.

Auch Handwerker können sich nach jahrelanger Tätigkeit noch weiterbilden und ihr Wissen als Berater an Jüngere weitergeben, ist Rüegger überzeugt. Wichtig sei nur eines: «Niemals die Jungen belehren!» Gerade bei der Nachfolge sei das wichtig, die Patrons müssten lernen loszulassen. Er habe schon oft vom Wissen der jungen Generation profitiert, so der Architekt. Zum Beispiel in der digitalen Welt, die ihn sehr begeistert und mit welcher er schon in Berührung kam, lange bevor jemand auch nur vom iPhone zu träumen wagte.

Da war noch was in LA…

Er habe 1975 mit Lochkarten programmieren gelernt, erzählt Rüegger lachend. 1986, als er in den USA dozierte, stand eines Tages eine Kiste auf seinem Pult in der Uni. «Apple, damals unter Steve Jobs, schenkte allen Dozenten einen Mac.» Als er in die Schweiz zurückkehrte, besorgte er sich hier ebenfalls als erstes einen Mac. Dann schiebt er schmunzelnd ein: «Der Lehrer meines Sohnes sagte: Das Internet wird nie kommen.» Ein Moment Pause. Rüeg­ger scheint nach dem Zeitsprung seine Gedanken zu ordnen. «Meine Frau sagt, ich springe immer von einem Punkt zum anderen.» Moment… Frau und Sohn? Es drehte sich also doch nicht alles nur um die Arbeit in Werner Rüeggers Leben.

«Sie ist froh, wenn ich ihr nicht auf den Wecker gehe.»

Die Arbeit und die Liebe liessen und lassen sich wunderbar kombinieren. «Sie ist froh, wenn ich ihr nicht auf den Wecker gehe», lacht Rüegger. Seine Frau habe auch stets viel gearbeitet und engagiert sich auch heute noch ehrenamtlich im American Women’s Club Zurich, erzählt er von Maxine, die er in Kalifornien kennenlernte. «Das hat für uns immer gepasst, und das tut es auch heute noch, wir sind immerhin 31 Jahre verheiratet.»

Die 80-Stunden-Woche

Seine Plattform kompetenz60 plus.ch ging im Februar 2018 online. Rüeggers Augen glänzen wieder, und er ist Feuer und Flamme für sein Projekt. «Wir suchen Fachkräfte, die etwas drauf und Freude an der digitalen Transformation haben. Zweifler brauchen wir nicht.» Seine Stärke sei die Fantasie. «Ich kann mir die Dinge gut vorstellen». Er schwärmt von Elon Musk, seinem zweiten grossen Vorbild neben Steve Jobs. «Elon Musk sagt, die 80-Stunden-Woche ist das Minimum, um die Welt zu verändern. In Frankreich haben wir eine 35-Stunden-Woche, in der Schweiz arbeiten wir 42 Stunden.» Aus Sicht der Gewerkschaften mögen das zwar Errungenschaften sein. «Aber wenn man das grosse Bild verändern will, dann braucht es einfach Einsatz.»

Wie viele Menschen sich Rüegger anschliessen und auf seine Plattform aufspringen, kann er nicht abschätzen. In der Schweiz hätten es viele Menschen halt nicht nötig, nach der Pension noch zu arbeiten.

Es ist nicht mehr wie frĂĽher

Werner Rüegger ist quasi die Personifizierung eines Schweizer KMU: bodenständig und selbstkritisch. «Meine Frau sagt oft zu mir: ‹Weisst du, es ist nicht mehr wie früher.›» Dann müsse er sich wieder be­sinnen. Der Generationenkonflikt zwischen Alt und Jung ist gemäss Altersforscher François Höpflinger nämlich eine der grossen Hürden, die es in Sachen Altersarbeit noch zu überspringen gilt.

Rüegger kennt diese Hürden, hat schon oft mit Jungen zusammen­gearbeitet und «viel von ihnen gelernt». Er nimmt beide Seiten in die Pflicht. «Die Jungen wollen nicht mit uns alten Kläusen reden. Ich verstehe es, weil mein Vater auch immer alles besser wusste.» Und die Jungen? «Die dürfen ihre Probleme nicht mit selbstbewusstem Auftreten überspielen.»

Wer abschaltet, lebt im Gestern

Fehlt noch des Visionärs Blick in den Arbeitsmarkt der Zukunft. Rüegger ist sich sicher, dass die Handwerker bald knapp werden. «Mein Vater war Hobbydrechsler. Ich habe ihm viele Abende in der Werkstatt geholfen, deshalb habe ich ein Verständnis für handwerkliche Arbeiten. Mein Sohn und meine Tochter haben mich leider nie werken gesehen», bedauert Rüegger.

Er denkt kurz nach und holt tief Luft. «Wirklich schlimm finde ich, wenn jemand sagt, früher war alles besser.» Damit werde ausgedrückt, dass man nicht mehr zuhöre, sich nichts sagen lasse und nicht mehr dazulerne. Er jedoch glaube an das lebenslange Lernen. Was Menschen, die schon «abgeschaltet haben», wie Rüegger sagt, von ihm denken, das ist ihm egal. «Vielleicht bin ich ja wirklich ein Luftibus. Aber einer mit Verantwortungsbewusstsein.»

Adrian Uhlmann

www.kompetenz60plus.ch

www.baumuster.ch

Die Schweiz arbeitet länger

Es liegt an den Frauen

Warum arbeiten wir trotz Wohlstand immer länger? Wir machen eine Anpassung nach dem Vorbild von Roger Federer durch: Eine schonende Spiel- resp. Arbeitsweise lässt uns auch in höherem Alter noch Topleistungen abrufen. Die jährliche tatsächliche Arbeitszeit pro Vollzeitstelle hat von 2010 bis 2016 – entgegen vieler Annahmen – abgenommen. Das ist aber nicht der Hauptgrund, sondern die Entwicklung der «Spielregeln» im Arbeitsmarkt.

Historisch liegt die Blüte der Altersarbeit um das Jahr 1900 herum. Die Werte sanken dann bis Mitte der 1990er-Jahre, auch aufgrund des Ausbaus der Altersvorsorge. Danach erfolgte die Trendwende. Gemäss Avenir Suisse sind der bessere Gesundheitszustand und das steigende Bildungsniveau jedoch nicht – wie oft behauptet – für den Anstieg verantwortlich, denn diese Faktoren verbessern sich nicht erst seit den 90er-Jahren.

Eine Studie von internationalen Sozialversicherungsexperten zeigt, dass die Erwerbsquote dank der Frauen ansteigt. Heute sei es viel seltener der Fall als noch vor dreissig Jahren, dass Frauen nach der Geburt des ersten Kindes vom Arbeitsmarkt ausscheiden. Dieser Effekt überträgt sich gemäss der Studie auch auf die Männer. Bemerkenswert: Da die Frauen länger und mehr arbeiten, tun es ihnen die Männer gleich, was den Effekt insgesamt weiter verstärkt.uhl

www.nber.org/papers/w24584#fromrss

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