Publiziert am: 16.09.2022

«Ausbau, Ausbau, Ausbau!»

HENRIQUE SCHNEIDER – «Die Situation ist dramatisch», sagt der stellvertretende Direktor des sgv und Ressortleiter Energie und Umwelt. «Der fehlende Strom ist kein kurzfristiges und einmaliges Problem und wird uns noch viele weitere Jahre beschäftigen.» Umso wichtiger sei sehr schnelles Handeln.

Schweizerische Gewerbezeitung: Die Schweiz steuert im Winter auf eine schwierige Energie-Situation zu. Manche sprechen davon, dass die Energiestrategie 2050 gescheitert sei. Stimmt das – und falls ja, was ist schief gegangen?

Henrique Schneider: Die Energiestrategie ist insofern gescheitert, als der Teil mit dem Ausbau der Kapazitäten beim zweitwichtigsten Energieträger, dem Strom, nicht geklappt hat. Das ist die Knacknuss. Der Zubau geht viel zu langsam voran. Die Situation ist dramatisch, auch was die Entwicklung des Preises anbelangt. Beim wichtigsten Energieträger, dem Öl, ist die Winterversorgung sichergestellt. Beim drittwichtigsten Energieträger, dem Gas, werden jetzt Reserven aufgebaut. Aber auch bei Öl und Gas gibt es deutliche Preisanstiege.

Der Schweizerische Gewerbeverband sgv hat die Energiestrategie 2050 unterstützt, indem er sich für ein Ja zum Energiegesetz eingesetzt hat, welches von den Stimmbürgern 2017 schliesslich angenommen wurde. Welche Schritte hat der Verband seither unternommen, damit die Umsetzung der Strategie gelingt?

An der Energiestrategie ist nicht alles schlecht. Sie sah ein Ende der Stromsubventionen vor und eine Vereinfachung der Bauvorschriften. Vieles wurde jedoch schlicht nicht umgesetzt. Wir haben uns immer dafür eingesetzt und darauf hingewiesen, dass die Stromkapazitäten ausgebaut werden müssen: Ausbau, Ausbau und nochmals Ausbau! Doch noch Anfang dieses Jahres hat uns die gesamte Politik ausgelacht, als wir auf die drohende Strom-Mangellage hingewiesen haben.

Durch die gegenwärtige Energie-Krise gelangt auch die Kernkraft wieder in den Fokus. Welche Rolle spielt diese, und sollte das im Energiegesetz verankerte Neubauverbot in der Schweiz fallen?

Der sgv setzt sich für Technologie-Neutralität ein. Wichtig ist, dass die Schweiz eine sichere Stromversorgung hat, die günstig ist und einen tiefen CO2-Ausstoss hat. Deshalb müssen die Laufzeiten der bestehenden Kernkraftwerke verlängert und das Bauverbot aufgehoben werden.

Der sgv hat sich in diesem Jahr bereits mit mehreren Briefen an den Bundesrat gewandt und gefordert, dass die Stromproduktionskapazitäten rasch ausgebaut werden müssen. Was war die Reaktion?

Der Bundesrat hat jeweils juristisch sehr korrekt geantwortet. Passiert ist aber wenig. Etwas muss man dem Bundesrat aber hoch anrechnen.

Was?

Er ist auf unsere Forderung eingegangen, bei seinem Notfallplan zur Strom-Mangellage eine weitere Eskalationsstufe einzuführen. Und zwar zwischen dem freiwilligen Sparen (Stufe 1) und den Bewirtschaftungsmassnahmen (ab Stufe 2), die Verbote, Kontingentierungen oder gar regionale Netzabschaltungen für mehrere Stunden vorsehen.

Wie sieht diese Stufe aus?

Branchen gehen dabei Sparvereinbarungen mit dem Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung ein. Diese Pläne werden Bottom-up – von unten nach oben – von den Branchen und Unternehmen erarbeitet. Das Vorgehen ähnelt demjenigen bei Corona, als auch die Branchen selbst Schutzkonzepte ausgearbeitet haben. Die Branchen und Unternehmen kennen ihr Sparpotenzial beim Strom am besten. Die Einsparungen müssen zwischen 10 und 20 Prozent liegen. Im Gegenzug sollen Branchen mit Sparvereinbarungen möglichst von Verboten und Kontingentierungen ausgenommen werden. Vorreiter dieser Idee war der Tourismus.

Sparen, damit es gar nicht zu Bewirtschaftungsmassnahmen durch den Bundesrat kommt?

Genau. Das müssen wir auf alle Fälle verhindern. Die Auswirkungen wären dramatisch. Der Bund würde mit rigiden Verboten arbeiten, zum Beispiel welche Geräte abgeschaltet werden müssen. Von Kontingentierungen oder gar Netzabschaltungen ganz zu schweigen. Ausserdem würde dann wieder – ähnlich wie bei Corona – das unselige Spiel beginnen, wer systemrelevant ist und wer nicht. Sparen ist in diesem Zusammenhang aber eigentlich das falsche Wort.

Inwiefern?

Es handelt sich nicht um Sparen, sondern um ein reines Verzichtsprogramm. KMU haben sowieso den Anreiz, Kosten tief zu halten. Wer jetzt mit dem Finger auf die KMU bezüglich Sparpotenzial zeigt, der ist unredlich. Wir haben grosse Anstrengungen unternommen. Stichwort Energieagentur der Wirtschaft. Wir sind die sauberste Volkswirtschaft der Welt, was den Emissionsausstoss anbelangt. Dass wir nun zu wenig Strom haben, ist Politikversagen.

Welche Rolle spielt der Ukraine-Krieg?

Er wirkt als negativer Verstärker. Wer aber behauptet, er wäre ursächlich für die hiesige Strom-Mangel-lage, der argumentiert unredlich. Das Problem ist hausgemacht.

Der sgv fordert deshalb, dass bei Grossprojekten der Wasser- und Windkraft keine Einsprachen mehr möglich sind, solange die Ausbauziele der Energiestrategie 2050 nicht erfüllt sind. Zum Beispiel bei der Erhöhung der Grimsel-Staumauer. Ausserdem soll bei Kleinanlagen – Solar- und Biogas-Anlagen, Wärmepumpen – in allen raumplanerischen Zonen nur noch eine Meldepflicht und keine Baubewilligung mehr nötig sein. Glauben Sie, dass Sie mit dieser Forderung durchkommen?

Bei den Kleinanlagen bin ich zuversichtlich. Bei den Grossanlagen geht es langsam in die richtige Richtung. Da findet ein Umdenken statt. Um es zu verdeutlichen: Der Bau solcher Grossprojekte dauert sowieso schon mindestens fünf Jahre. Einsprachen, die bis vor Bundesgericht gehen können, verzögern die Grossprojekte im Schnitt um weitere fünf bis acht Jahre. Insgesamt sind derzeit etwa 30 Projekte in Planung. Drei Punkte dazu sind noch wichtig.

Welche?

Erstens: Durch unsere Forderung ändert sich inhaltlich bei der Umsetzung der Grossprojekte nichts. Diese müssen die raumplanerischen Auflagen weiterhin erfüllen. Auch die Umweltverträglichkeitsprüfung ist weiterhin Pflicht. Zweitens: Der Volksentscheid für den Zubau ist aufgrund der Annahme des Energiegesetzes vorhanden.

Drittens – und das muss uns allen klar sein: Wir müssen sehr schnell handeln. Momentan ist viel von einer potenziellen Strom-Mangellage im Februar/März 2023 die Rede. Aber: Eine solche Lage ist kein kurzfristiges und einmaliges Problem. Der fehlende Strom wird uns noch viele weitere Jahre beschäftigen. Je rascher wir zubauen, desto eher lösen wir dieses Problem und müssen nicht jeden Herbst über eine Mangellage und allfällige Massnahmen diskutieren.

Viele KMU haben derzeit mit explodierenden Strompreisen zu kämpfen. Eine Forderung des sgv ist, dass Unternehmen, die im freien Strommarkt einkaufen können, zurück in die Grundversorgung wechseln dürfen. Kritiker sagen, dass diese Firmen davon jahrelang profitiert haben. Wieso sollten sie jetzt, wo es schwierig ist, zurück dürfen?

Erstens ist der sogenannte «freie Markt» gar keiner. Es handelt sich um ein Oligopol, bei dem mehrere grosse staatliche Versorger Marktmacht ausüben. Zweitens hat die derzeitige Stromlage inklusive Preisexplosion niemand kommen sehen – weder die Politik, und auch nicht die Vertreter der Strombranche, deren Business es ist. Dann kann man doch nicht von den KMU erwarten, sie hätten diese Lage antizipieren müssen.

Drittens: Die Strombranche hat die KMU bei ihren Stromentscheiden beraten. Wenn nun einige deren Vertreter gegen den Rückwechsel in die Grundversorgung argumentieren, dann ist das nicht nur falsch, sondern auch dreist! Viertens: Es gibt KMU, die erhalten derzeit gar keine Offerte mehr auf dem «freien Markt». Das heisst: Sie sind an den bisherigen Lieferanten gebunden und müssen seine Preise akzeptieren. Es gibt Firmen, die mit 16 (!) Mal höheren Energiekosten konfrontiert sind und allein diese Kosten den Gewinn bei Weitem überschreiten!

Aber ist ein Zurück rechtlich überhaupt möglich?

Aus unserer Sicht: Ja. Im Gesetz steht nicht, dass ein Rückwechsel in die Grundversorgung nicht möglich ist. Weil das ein sehr wichtiger Entscheid ist, müsste das explizit im Gesetz stehen, wenn es verboten sein sollte. Tut es aber nicht! Bei der Behauptung des Bundes, ein Zurück sei nicht möglich, handelt es sich um eine einseitige Interpretation des Gesetzes durch die Verwaltung. Wir fordern übrigens schon mehrere Jahre, dass ein Rückwechsel möglich sein soll. Das ist nichts Neues.

Einige Unternehmen haben wegen der Energiekosten bereits Kurzarbeit beantragt. Ist das der richtige Weg?

Dieses Regulativ steht bereit und kann von jedem Unternehmen jederzeit beantragt werden. Das Seco prüft die Gesuche. Das sollte als Abfederungsmassnahme vorerst ausreichen.

Derzeit überschlagen sich die Politiker mit Forderungen. Zum Beispiel, dass sogenannte «Übergewinne» der Stromkonzerne abgeschöpft werden sollen. Und der Bundesrat hat kürzlich einen Rettungsschirm von vier Milliarden Franken für die Axpo aktiviert. Was halten Sie davon?

Wir wehren uns weiterhin gegen den Rettungsschirm. Ausserdem besteht für diesen gar keine gesetzliche Grundlage. Als Parlamentarier käme ich mir ziemlich dumm vor, dass ich diesen im Nachhinein nur noch abnicken darf.

Zu den Vorschlägen. Viele davon kann man unter dem Stichwort «Schrübli-Politik» zusammenfassen: Sie bringen wenig, sind teilweise kontraproduktiv und lösen im Grossen und Ganzen das Problem nicht. Nämlich, dass wir zu wenig Strom produzieren, um im Winter gerüstet zu sein und dann eine Reserve zu haben!

Interview: Rolf Hug

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