Publiziert am: 06.09.2019

Das 60-Minuten-Start-up

ANNANOW – Das Start-up liefert Bestellungen in unter einer Stunde aus, als Kurier fungiert die Crowd – also der Taxifahrer, die Studentin oder der Velobote. Ist die Sofortlieferung nur eine Wohlstandserscheinung oder tatsächlich ein Bedürfnis? Und wie geht das überhaupt? Wir haben die Co-Gründer Patrick Keller und Daniel Stutz in Zürich getroffen.

Unscheinbarer Eingang an der Schützengasse 3 in Zürich, viele Computer, Post-it-Zettel an den Wänden. Ja, so wie bei Annanow (Aussprache: Anna-now) stellt man sich ein Start-up vor. Aus diesem Büro heraus wird versprochen, Bestellungen in unter einer Stunde auszuliefern.

«Die coolen Monitore an den Wänden hat der Vormieter einfach dagelassen, sonst würde es ziemlich leer aussehen», lacht Patrick Keller. Gemeinsam mit Daniel Stutz, Daniel Gradenegger und Ivan Kovacevic hat er die Annanow Group AG im März 2017 gegründet. Sie arbeiten aber schon länger am Projekt. Und das erfolgreich: Erst kürzlich wurde ­Annanow zum innovativsten Fintech-Start-up Europas gewählt.

Menschen lieben Freiheit

Liefern, wenn der Kunde zu Hause ist. Innerhalb einer Stunde. Das ist das erklärte Ziel von Annanow. «Wenn ich im Tracking-Mail sehe, dass mein Paket zwischen 14 und 18 Uhr geliefert wird, dann bringt mir das nicht viel», sagt Daniel Stutz. «In dieser Zeit bin ich gebunden und das mögen die Menschen nicht. Selbst wenn sie eigentlich gar nichts vorhaben. Deshalb liefern wir schnell und auf den Punkt.» Das sorge für die geringstmögliche Abhängigkeit bei den Kunden. Oder um es positiv auszudrücken: für die grösstmögliche Freiheit. Denn Menschen lieben ihre Freiheiten.

In Zukunft stellen sich Stutz und Keller eine Lieferung zu einer bestimmten Uhrzeit und an einen Ort nach Wahl vor. «Wenn ich mit Kollegen eine Grillparty veranstalte, kann ich mir alles nach der Arbeit per 18 Uhr direkt an den See liefern lassen. Ich muss mich um nichts kümmern und nichts herumschleppen», sagt Stutz. «Und das Bier ist noch schön kühl.»

Schneller, weil näher

Lieferung innert einer Stunde – braucht es das überhaupt? «Das ist der gesellschaftliche Wandel», sagt Patrick Keller. «Alles wird immer schneller, man gewöhnt sich daran, es wird normal.» Daniel Stutz wirft ein: «Die Nachfrage ist auf jeden Fall da.»

Doch wie kann eine Lieferung überhaupt innerhalb einer Stunde abgewickelt, geschweige denn garantiert werden? «Die Option für die Lieferung in 60 Minuten wird dem Kunden beim Checkout nur dann angezeigt, wenn das Produkt in der Nähe verfügbar ist», erklärt Keller. Und das ist es öfters als man denkt. Hier liegt der Clou an der Sache: Warum soll der Fernseher von weit her aus dem Zentrallager herangekarrt werden, wenn er doch im Geschäft nebenan steht?

Ein Beispiel: Frau Müller bestellt einen Fernseher. Drei Strassen von Frau Müller entfernt betreibt Herr Fischer sein Elektrofachgeschäft. Er hat das Modell, das sich Frau Müller wünscht, schon längst an Lager.

Gleichzeitig herrscht bei Taxifahrer Gubler am naheliegenden Bahnhof gähnende Leere. Er checkt seine App, nimmt den Auftrag an, holt das Paket beim Elektrofachgeschäft ab und bringt es zu Frau Müller. Für alle Beteiligten ein Gewinn – zudem wurde ein längerer Transportweg eingespart.

Shops machen die Preise

Und hinter der Kulisse? Da sendet das Elektrofachgeschäft dem Kunden einen Zahlungslink (vgl. Nebenartikel unten). Hat Frau Müller bezahlt, wird die Lieferung über die Annanow-Software ausgelöst, die Uhr tickt. Geschäft und Kurier, in diesem Fall der Taxifahrer, erhalten ihr Geld sofort und Letzterer ist auch versichert (vgl. Kasten).

Was kostet der Spass? «Das entscheidet alleine der Shop. In die Preispolitik greifen wir nicht ein», betont Patrick Keller. Es gebe auch keine Empfehlungen. Die Shops könnten die Lieferung also gratis anbieten. Meistens würden die Kosten aber auf den Kunden abgewälzt. «Die Kunden sind bereit, für eine sofortige Lieferung etwas zu bezahlen», sagt Keller.

Die Shops wiederum erhalten von Annanow eine Monatsrechnung. Mit den Kurieren verhandelt das Start-up die Preise selbst. Damit sei eine faire Entlöhnung inklusive Sozial- und Unfallversicherungen für die Kuriere gewährleistet.

Fünf Minuten bis zum Backup

Annanow erreicht eine durchschnittliche Lieferzeit von 32 Minuten. Dies dank eines Backup-Systems, welches schon fünf Minuten nach Bestelleingang greift. Wenn dann kein Kurier den Auftrag angenommen hat, geht der Auftrag von der Crowd an einen Kurierdienst, der bei Annanow unter Vertrag steht und die Auslieferung zusichert. «Schliesslich bleiben diesem Kurier jetzt nur noch 55 Minuten», sagt Keller. Wenn die vielzitierte Crowd – «Jedermann kann Pakete ausliefern» – nur fünf Minuten Reaktionszeit erhält, wie viele Pakete werden dann überhaupt von der Crowd erledigt? Keller: «Etwas weniger als zehn Prozent.» Den Rest übernehmen professionelle Kurierdienste. «Am meisten wird aktuell durch Taxifahrer abgewickelt», sagt Keller. Annanow verhandelt meist direkt mit den Taxiunternehmen. Sie können damit Wartezeiten überbrücken und Leerfahrten dezimieren. Auch Velokuriere kämen oft zum Einsatz. Abgewickelt wird alles per App.

Klimageräte und Tannenbäume

Was ist den Kunden so wichtig, dass es in maximal einer Stunde geliefert wird? «Das ist saisonal verschieden», sagt Daniel Stutz. «Im Sommer wurden viele Klimageräte ausgeliefert. Im letzten Winter waren es zu unserem Erstaunen auch einige Weihnachtsbäume. Man kauft den Weihnachtsbaum und muss ihn nicht mit ins Tram schleppen. Eigentlich eine tolle Idee.» Allgemein komme diese Heimliefermöglichkeit gut an. Statt die Einkaufstaschen den ganzen Tag durch die Geschäfte zu schleppen, werden diese nach Hause geliefert, wenn die Kunden auch wieder zu Hause sind. «So hat man erst noch die Hände frei, um noch mehr einzukaufen», schmunzelt Stutz.

Internationale Ziele

Das Start-up strebt ein schnelles Wachstum an und expandiert nach Sprachregionen, «denn der Support muss gewährleistet sein», sagt Keller. So liege der Fokus aktuell auf der Romandie und damit verbunden später auf Frankreich. Auch Grossbritannien und Italien stehen auf dem Plan. Aktuell ist Annanow nebst der Schweiz auch in Deutschland und Österreich tätig und zählt 35 Entwickler mit 10 Vollzeitstellen.

Wer «schnelles Wachstum» hört, denkt womöglich an Jean-Pierre Wicht, Mitglied der Schweizerischen Gewerbekammer, der in der letzten Ausgabe der sgz vom 9. August Bedenken darüber geäussert hat, dass viele Jungunternehmer «versuchen, eine Geschäftsstruktur zu schaffen, die sich mit grösstmöglichem Gewinn verkaufen lässt». Daniel Stutz winkt ab: «Man merkt im Start-up-Umfeld, wer mit Leib und Seele dabei ist und wer nicht.» Keller ergänzt: «Wir würden nicht mit KMU arbeiten, wenn wir nicht daran glauben. Sie sind sehr anspruchsvoll und wollen von etwas Neuem überzeugt werden. Sonst könnten wir gleich bei den Grossen anheuern.»

Die Innovation bei Annanow besteht aus dem Dreieck, welches Lieferung, Bezahlung und Versicherung in einem bietet. Um diese Formel dreht sich die gesamte Struktur im Hintergrund. Und die ist logischerweise digital. Es geht um Daten, Daten und noch mehr Daten. Fintech halt.

Adrian Uhlmann

www.annanow.com

Die Crowd ist versichert

Wer Uber kennt, kennt die Problematik der Versicherungen. Wer ist dafür während der Auftragsfahrten zuständig? Was ist mit Sozialleistungen? Die Annanow-Gründer betonen: «Jeder Kurier ist unfallversichert und erhält für die Zeit, die er für uns ausliefert, Sozialabgaben.» Geregelt werde dies mit einem «einfachen Arbeitsvertrag». Ohne diese Leistungen wäre die Skepsis bei Interessierten zu gross und Rechtsstreitereien wie bei Uber wären vorprogrammiert gewesen.

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