Publiziert am: 04.09.2015

«Der Tunnel ist für uns unverzichtbar»

GOTTHARD-SANIERUNGSTUNNEL – Vor 35 Jahren wurde der Gotthard-Strassentunnel eröffnet. Nun muss er saniert werden. Für den für Finanzen und Wirtschaft zuständigen Tessiner Staatsrat Christian Vitta gibt es keine Alternative zu einer Sanierungsröhre.

Schweizerische Gewerbezeitung: Wie müssen wir uns die Strassenverbindung am Gotthard vor der Eröffnung des Tunnels am 
5. September 1980 aus Tessiner Sicht vorstellen?

n Christian Vitta: Der Gotthard-Tunnel hat die Geschichte des Verkehrs und die Geographie der Schweiz verändert. Er hat die Schweiz zusammengeführt, aber auch Europa kleiner gemacht. Wenn wir zurückdenken an die Mobilitätshindernisse, mit denen wir uns vor dem 5. September 1980 herumschlagen mussten, erkennen wir, wie weitsichtig diese Entscheidung war. Der Gotthardtunnel hat unseren Zugang zum Norden massgeblich erleichtert und so zu ­einer Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen zwischen dem Tessin und dem Rest der Schweiz beigetragen.

«DER TUNNEL HAT DAS VERHÄLTNIS DES TESSINS ZUM REST DER SCHWEIZ VERBESSERT.»

Wie haben Sie die Eröffnung des Gotthardtunnels in Erinnerung?

n Im Jahr 1980 war ich erst acht Jahre alt, also noch sehr jung, und meine Erinnerungen sind unscharf. Ich mag mich jedoch entsinnen, dass viel über dieses Ereignis gesprochen wurde, und auch Archivfotos bestätigen: Die Eröffnung dieses Bauwerkes war ein grosses Fest – nicht nur für meinen Heimatkanton Tessin, sondern für die ganze Schweiz. 

Welche Folgen hat die Tatsache, dass der Verkehr im Gotthard-Strassentunnel nicht richtungs­getrennt ist?

n Die Sicherheitsexperten bestätigen mir, was wir alle vom Gefühl her kennen: Der Verkehr wird in einer langen und engen Röhre auf eine Spur mit Gegenverkehr gedrängt. Das führt zu einer deutlich erhöhten Gefahr von Frontal- oder Streifkollisionen. Der Gotthard-Strassentunnel gehört zu unserem Alltag. Doch wir Tessiner haben nicht den Luxus, ihn «nur» für die Ferienfahrt zu benutzen und so der Gefahr ausweichen zu können. 

Was hat sich durch den Gotthard-Strassentunnel im Kanton Tessin für die Bevölkerung verändert?

n Das Tessin und die Schweiz nördlich der Alpen sind viel enger zusammengewachsen – wirtschaftlich, sozial und kulturell. Eine Sägerei in der Leventina erhält jeden Tag mehrere Ladungen Holz aus Uri und versorgt das Heizwerk in Göschenen mit Spänen. Das Kinderspital Luzern dient auch den Frühgeborenen aus dem Kanton Tessin als Referenzspital. Ein grosser Teil der Fans, die bei Heimspielen des HC Ambrì-Piotta die Valascia mit Begeisterung füllen, fahren aus dem Norden an. Tessinerinnen und Tessiner zügeln für ihre Ausbildung in der Deutschschweiz oder in der Romandie nach dem Sommer ihr Zimmer durch den Tunnel. Kurz: Die immense Bedeutung des Tunnels für unser alltägliches Leben würde uns wohl erst richtig bewusst, wenn er einmal geschlossen werden müsste.

Welche Bedeutung hat der Gotthard-Strassentunnel heute für die Wirtschaft im Tessin?

n Die Handelskammer des Kantons Tessin hat die Unternehmen des Kantons zu einer allfälligen mehrjährigen Schliessung des GotthardStrassentunnels befragt. Über 500 Unternehmen haben teilgenommen. Praktisch alle (96 Prozent) erwarten Auswirkungen auf die kantonale Wirtschaft. 90 Prozent der Unternehmen geben an, dass sie in ihrer Tätigkeit direkt betroffen wären, insbesondere in den Bereichen Tourismus und Dienstleistungen. Im Vordergrund stehen Sorgen bezüglich der Lieferkosten, der Planungssicherheit und des Verlustes von Marktanteilen. Die Schliessung des Strassentunnels würde sich nicht auf die Zeit der Sanierung beschränken, sondern schon im Vorlauf zu geringeren Investitionen führen. Die Auswirkungen reichen auch über die Zeit der Sanierung hinaus, da einmal verlorene Marktanteile nur mit gros­ser Mühe zurückgewonnen werden können – wenn überhaupt.

«DAS KINDERSPITAL LUZERN IST FÜR UNSERE FRÜHgeborenEN WICHTIG.»

Was wären die Folgen für die regionale Wirtschaft, wenn der Gotthard-Strassentunnel saniert werden müsste, ohne dass ein Sanierungstunnel zur Verfügung steht?

n Jeder Unternehmer wird versuchen, das Beste aus der Lage zu machen. Der Schaden wäre dennoch gross. Während den Jahren der Schliessung fallen direkte Mehrkosten an, die zu konjunkturellen Einbrüchen führen. Noch mehr Sorgen bereiten mir jedoch die strukturellen Schäden: Wer investiert schon in einer Gegend, die in der nahen Zukunft strassenseitig vom Rest des Landes abgeschnitten sein wird?

Welche Folgen hätte die Sperrung des Gotthard-Strassentunnels für den internationalen Güterverkehr?

n Das kommt sehr darauf an, welche Alternative dem internationalen Güterverkehr im Fall einer Sperrung geboten würde. Der Bundesrat hat angekündigt, dass er in einem solchen Fall weit über eine Milliarde ausgeben würde für den Bau und Betrieb einer provisorischen «Rollenden Landstrasse» zwischen Erstfeld und Biasca für die Dauer der Sanierung. Ich glaube nicht, dass die Schweiz ernsthaft alle 30 oder 40 Jahre Unsummen für Mammut-Provisorien ausgeben wird, die dann wieder abrissen werden. Aber angenommen, es werden solche Provisorien gebaut: Ihre Kapazität wird ungenügend sein. Deswegen rechnet der Bundesrat mit Umgehungsverkehr auf der San Bernardino-Route, dem Simplon und dem Grossen St. Bernhard, aber auch über Frankreich und Österreich. 

Weshalb ist eine «Rollende Landstrasse» und der Verlad von LKWs, PKWs, Bussen, Wohnmobilen und Caravans, wie sie die Gegner einer 2. Röhre verlangen, für Sie keine Option?

n Weil das ein denkbar teurer Unsinn wäre! Wir können doch nicht für mehr als eine Milliarde riesige Verladeanlagen in den Talböden bei Biasca und Erstfeld bauen, diese nach der Sanierung wieder abreisen, bei der nächsten Sanierung wieder aufbauen, usw. Der Kanton Tessin und die Gemeinde Biasca wehren sich zudem strikt gegen den Bau einer solchen Anlage in Biasca – und der Kanton Uri übrigens gegen den Bau einer solchen Anlage bei Erstfeld. Ich habe Mühe zu glauben, dass ein solches Projekt je realisiert würde. Nur: Andere glaubwürdige Alternativen ­fehlen, falls der Sanierungsvorschlag des Bundesrates und des Parlamentes abgelehnt würde. Kurz: Sollte die Sanierungsvariante des Bundes in der Abstimmung abgelehnt werden, stünden wir wohl für Jahre vor einem sehr, sehr teuren Scherbenhaufen.

«WER INVESTIERT SCHON, WENN DAS TESSIN BALD ABGESCHNITTEN WIRD?»

Hätte eine «Rollende Landstrasse» überhaupt genügend Kapazitäten, oder wird hier kaltschnäuzig mit noch mehr Staus kalkuliert als schon heute?

n Eine solche «Rollende Landstrasse» könnte kaum vor 2025 oder 2030 realisiert werden – schon nur das Plangenehmigungsverfahren dürfte wegen Rekursen bis und mit Bundes­gericht fünf bis zehn Jahre dauern. Je länger wir warten, desto weniger freie Kapazität ist im Schienen-Basistunnel noch vorhanden.

Was hält die Bevölkerung im Tessin davon, dass vor beiden Portalen riesige Verladerampen erstellt werden sollen?

n Ich habe es schon angetönt: Die Gemeinde Biasca würde sich mit allen politischen und juristischen ­Mitteln gegen den Bau solcher Verladeanlagen auf ihrem Territorium wehren. Es ist daselbst seit Jahren der Bau einer dringend benötigten Industrie- und Gewerbezone geplant. Der Kanton Tessin würde Biasca dabei sicherlich unterstützen.

«DIE ‹ROLA› WÄRE EIN DENKBAR TEURER UNSINN.»

Was halten Sie von der Vorstellung, den Ferienverkehr über die Passtrasse zu führen?

n Ich mache mir ernsthafte Sorgen. Es reicht, dass ein ausländischer Wohnwagen in einer Spitzkehre in der Schöllenen stecken bleibt, und alles steht still. Die Passstrasse muss genutzt werden, sicher. Aber es grenzt an Fahrlässigkeit, wenn man ihr eine tragende Rolle im Verkehrskonzept im Falle einer Schlies­sung des Strassentunnels zutrauen wollte.

«VERLADEN IN BIASCA? WIR WÜRDEN UNS MIT ALLEN MITTELN WEHREN!»

Welches sind für Sie die wichtigsten Argumente, die für den Bau einer Sanierungsröhre durch den Gotthard sprechen?

n Der Gotthard-Strassentunnel muss umfassend saniert werden. Das bedingt eine mehrjährige Vollschlies­sung. Nach jahrelangen, sorgfältigen Abklärungen ist der Bund zum Schluss gekommen, dass der Bau einer zweiten Röhre ohne Kapazitätserweiterung das beste Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweist. Es ist zudem verkehrstechnisch überzeugender und verhindert, dass das Tessin während Jahren keine stabile Strassenverbindung mit dem Rest des Landes hat: Ein staatspolitisch zentrales Argument!

Ich teile diese Einschätzung des Bundes. Aber sollte jemand eine bessere Idee haben, wie diese Sanierung durchgeführt werden kann, so bin ich durchaus offen. Nur: Eine solche glaubwürdige Alternative ist zurzeit weit und breit nicht in Sicht.

Interview: Gerhard Enggist

Alle kandidaten für den 18. Oktober dabei

Urner Landräte fordern Sanierungstunnel

Eine Mehrheit des Urner Landrats, dem Kantonsparlament des Kantons Uri, fordert, dass vor der Sanierung des Gotthard-Strassentunnels eine Sanierungsröhre gebaut wird (vgl. S. 1). Darunter sind sämtliche heute bekannten Urner Kandidierenden für die nationalen Wahlen vom 18. Oktober 2015. Sie positionieren sich klar für eine Sanierungsröhre, die gerade für den Kanton Uri von grosser ­Bedeutung ist.

Auch der frühere Urner FDP- Nationalrat Franz Steinegger hält eine Sanierungsröhre für unverzichtbar, wie er gegenüber der Gewerbezeitung festhält. «Der Gotthard-Strassentunnel ist eine Milliardeninvestition. Ein privater Investor würde Konkurs gehen, wenn er alle 30 Jahre diese Investition während drei bis vier Jahren nicht nutzen könnte. Er würde eine zweite Röhre bauen, um zu überleben. Es ist zu hoffen, dass auch in 
der schweizerischen Verkehrspolitik diese Logik obsiegt.»

Ein ausführliches Interview mit Franz Steinegger lesen Sie in der Gewerbezeitung vom 18. September.

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