Publiziert am: 18.02.2022

Durchzogene Aussichten

EU 2022 – Es ist nicht klar, wer zuerst gesagt hat «Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.» Doch es ist klar, dass Ökonomen trotzdem gerne in die Zukunft schauen. Was bringt das Jahr 2022 für die Europäische Union?

Für das Jahr 2022 wird mit einem Wirtschaftswachstum der EU als Ganzes von 4,3 Prozent gerechnet. Für das Jahr 2023 wird dann ein moderateres Wachstum von 2,5 Prozent prognostiziert. Allerdings ist dieses Wachstum in der EU ungleichmässig verteilt. Aber – und das ist ein grosses Aber – all das hängt davon ab, wie sich die COVID-19-Pandemie entwickelt.

Optimistische Zahlen

Im Jahr 2022 sollen die osteuropäischen Länder am stärksten wachsen. Polen, Ungarn, die Slowakei, Kroatien und Rumänien sollen gemäss den Prognosen eine Expansion von über fünf Prozent ihrer Wertschöpfung erleben. Auch Mittelmeer-Staaten wie Griechenland, Spanien und Portugal wachsen um fünf Prozent.

Italien, Österreich und Deutschland bilden eine mittlere Gruppe. Ihre Wirtschaften werden alle um etwas mehr als vier Prozent wachsen. Mindestens für Österreich und Deutschland bedeutet eine solche Expansion eine Hochkonjunktur, also einen Boom. Da diese Länder auch derzeit tiefe Arbeitslosigkeitsquoten aufweisen, kann dieses Jahr zu einem echten Segen werden. Vorbehältlich bleiben Corona und Inflation.

Die wachstumsschwächsten Länder sind solche in Skandinavien, die Benelux-Staaten sowie Frankreich. Ihre Wirtschaften dürften im laufenden Jahr zwischen zwei und vier Prozent wachsen. Das ist auf jeden Fall höher als üblich. Es ist aber zu langsam, um eine Erholung aus der Krise zu bewerkstelligen. Insbesondere für Frankreich mit seiner hohen Arbeitslosigkeit und der tiefen Produktivität ist ein so schwaches Wachstum problematisch.

Grosse Vorbehalte

Trotz dieser insgesamt guten Zahlen bleiben verschiedene Vorbehalte bestehen. Neben der Weiterentwicklung der Corona-Krise ist unklar, was mit der Inflation passiert. Eine allgemeine Preisteuerung von fünf oder sechs Prozent im Jahr ist mit den dargestellten Wachstumszahlen kompatibel. Fällt die Geldentwertung höher aus – und das ist nicht auszuschliessen –, hat sie einen dämpfenden Effekt auf die Erholung. Unabhängig vom Wirtschaftszyklus frisst die Inflation den Sozialstaaten der EU-Länder Mittel weg. Und da die meisten Sozialstaaten obermarode sind, fehlen entsprechend diese Mittel.

Weitere Vorbehalte sind die Versorgung der EU-Wirtschaften mit Material, Halbfabrikaten und Komponenten. Die Verknappungen in der weltweiten Logistikkette könnten sich überproportional auf die exportierenden Wirtschaften Europas auswirken, allen voran die Niederlande, Deutschland und Italien. Ein weiteres Problem, mit dem viele Unternehmen derzeit konfrontiert sind, ist die Anwerbung und Bindung qualifizierter Arbeitskräfte.

Die EU fällt zunehmend auch in Sachen Innovation zurück. Nicht nur werden innovative Geschäftsmodelle durch Regulierung blockiert. Sondern bestehende Unternehmen reinvestieren immer weniger. Das führt zu einer immer älter werdenden technologischen Infrastruktur der einzelnen Unternehmen. Und das wiederum dämpft ihre globale Wettbewerbsfähigkeit.

Und die Schweiz?

FĂĽr das Jahr 2022 erwartet das Staatssekretariat fĂĽr Wirtschaft ein Wirtschaftswachstum von drei Prozent. Bei einer Arbeitslosenquote von 2,4 Prozent ist das eindeutig eine Hochkonjunktur. Nicht einmal eine Inflation scheint in Sicht zu sein, denn die Teuerungsrate wird auf ein Prozent prognostiziert. Die Schweiz ist Nettoimporteurin aus der EU, und diese Situation wird auch so bleiben. Wahrscheinlich ist, dass sie ihre Exporte in die EU weiter reduziert und sie in die USA umlagert. Das ist eine Tendenz, die sich bereits in den letzten Jahren eta-bliert hat.

Es ist nicht ganz klar, wer gesagt hat: «Die meisten Prognosen sind gut, aber die Zukunft kümmert sich wenig darum.» Klar ist aber, dass dieser Vorbehalt bei jeder Prognose zutrifft.

Henrique Schneider,

Stv. Direktor sgv

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