Publiziert am: 03.06.2022

«Eine enorme Integrationsleistung»

LEIF AGNÉUS – Der Präsident von swissstaffing vertritt den Verband der Personaldienstleister neu im Vorstand des Schweizerischen Gewerbeverbands sgv. Dort wird er sich unter anderem für einen flexiblen Arbeitsmarkt und gegen zusätzliche Regulierungen einsetzen.

Schweizerische Gewerbezeitung: Vor einem Monat wurden Sie – als Vertreter von swissstaffing – in den Vorstand des Schweizerischen Gewerbeverbands gewählt. Was reizt Sie an der Mitarbeit im Leitungsgremium des grössten Dachverbands der Schweizer Wirtschaft?

Leif Agnéus: In meiner Arbeit im Personaldienstleistungsbereich habe ich Einblicke in die unterschiedlichsten Bereiche der Schweizer Wirtschaft gewonnen. Der sgv leistet einen grossen Beitrag, wenn es darum geht, die Interessen zu bündeln. Ich freue mich darauf, meine branchenübergreifende Perspektive in die Diskussionen einzubringen.

Die Arbeitsmarktpolitik ist ein zentrales Dossier im sgv. Wie können Sie hier Ihre Erfahrung einbringen?

Im Flexworkbereich nehmen wir Trends vorweg, die auf den ganzen Arbeitsmarkt zukommen. Mit der Temporärarbeit haben wir eine gute Antwort auf eine Frage gefunden, die Wirtschaft und Gesellschaft bald stark beschäftigen wird: Wie schaffen wir es, flexibel zu sein und gleichzeitig die nötige soziale Sicherheit zu garantieren? Das Fabrikzeitalter ist vorbei, viele starre Regelungen, die diesen Geist atmen, sind nicht mehr zeitgemäss. Aber nicht alle können die Lebensrisiken einfach selber tragen bzw. absichern. Das hat sich auch in der Pandemie gezeigt: Der Staat musste vielen Selbstständigen unter die Arme greifen.

«In der Pandemie haben die Personalvermittler gezeigt, was sie können.»

Als Sie sich und Ihre Kandidatur den Delegierten am Schweizerischen Gewerbekongress vorgestellt haben, verglichen Sie die Temporärfirmen mit KMU. Wie haben Sie das gemeint? Immerhin kommen einem beim Begriff KMU nicht als Erstes Firmen wie Manpower, Adecco oder Randstad in den Sinn …

Unsere «Big 5» – ich arbeite für einen von ihnen – prägen die öffentliche Wahrnehmung, aber decken weniger als einen Viertel des Markts ab. Unser Verband hat 425 Mitglieder. Bei vielen von ihnen vermittelt eine einzige oder eine Handvoll Personen die Temporärarbeitenden, oft spezialisiert auf wenige Berufe und Branchen. 58 Prozent der Personaldienstleister haben fünf oder weniger Mitarbeitende.

Schauen wir einen Moment zurück: Die Temporärarbeit hat sich in den letzten 50 Jahren einen wichtigen Platz in der Arbeitswelt erobert, sie ist heute nicht mehr wegzudenken. Wie hat diese Erfolgsgeschichte damals begonnen?

Die Geschichte beginnt in der Mitte des letzten Jahrhunderts in den USA im Bereich BĂĽroservice. Neue Dienstleister kauften Schreib- und Rechenmaschinen und boten Firmen an, sie zu unterstĂĽtzen. Bald wĂĽnschten die Firmen, dass das Personal doch gleich vor Ort in der Firma selbst eingesetzt werden solle.

Welche Branche hat als erste auf Temporärarbeiter in grösserer Anzahl zurückgegriffen – wann und wozu?

Ausser in der klassischen Büroarbeit war und ist die Temporärarbeit schon immer im Bausektor und in der Industrie stark.

Welches waren die grossen Meilensteine der Entwicklung Ihrer Branche?

Meilensteine der Entwicklung sind das Arbeitsvermittlungsgesetz (AVG) mit dem Kapitel ĂĽber den Personalverleih, das nach zwei Jahrzehnten Debatte 1991 in Kraft trat, und der Gesamtarbeitsvertrag, der seit 2012 gilt.

Heute ist die Wirtschaft ohne Temporärarbeit nicht mehr vorstellbar – Stichwort: Fachkräftemangel. Welchen Beitrag leisten die Mitglieder von swissstaffing momentan für die Schweizer Wirtschaft?

Wir haben vor ein paar Jahren eine Umfrage gemacht. Damals nannten die Unternehmen als Vorzüge der Temporärarbeit insbesondere die Deckung von kurzfristigem Personalbedarf (82 Prozent), das Engagement von Fachkräften für Projektarbeiten (67 Prozent), die Abdeckung saisonaler Schwankungen (66 Prozent) und das Kennenlernen von neuen Mitarbeitenden (46 Prozent).

In der Pandemie haben die Personalvermittler gezeigt, was sie können, um kurzfristigen Personalbedarf zu decken. Hier dürfen wir auf das stolz sein, was wir geleistet haben – im medizinischen Bereich etwa in den Impfzentren und Spitälern, aber auch in vielen anderen Branchen, als es darum ging, die teilweise gehäuft auftretenden Abwesenheiten wegen Krankheit und Quarantäne der Festangestellten zu kompensieren.

… und was bedeutet dieser Beitrag in Zahlen: Von welchen Um-sätzen sprechen wir schweizweit?

Wir schätzen den Umsatz aller Temporärunternehmen in der Schweiz für 2021 auf circa zehn Milliarden Franken.

In welchen Branchen wird heute vor allem temporär gearbeitet?

Gemäss der Arbeitskräfteerhebung primär in verarbeitendem Gewerbe, Bau, Verkehr, Handel und im IT-Bereich.

«Die feindselige Haltung der Gewerkschaften gegenüber der Temporärarbeit nützt den Beschäftigten gar nichts.»

Die Schweiz ist ein Land der KMU: Welche Bedeutung hat die Temporärarbeit für kleine und mittlere Unternehmen bis zu 250 Mitarbeitenden?

Sie stärkt die KMU im Wettbewerb mit den Grossunternehmen sehr! Erstere erhalten dank externer Expertise gleich lange Spiesse in der Rekrutierung und bei der Bewerbung um grössere Aufträge. Auch können sie Rekrutierung und Personalverwaltung an einen Personaldienstleister abgeben und sich auf das Kerngeschäft konzentrieren. Und Flexibilität wird natürlich umso wichtiger, je kleiner das Unternehmen ist.

Temporärarbeit kann auch als Puffer eingesetzt werden, um die Arbeitslosigkeit zu verringern. Welche Bedeutung kommt Ihren Mitgliedern in diesem Zusammenhang zu?

Die Integrationsleistung der Temporärarbeit ist enorm! Die Temporärarbeit ermöglicht vielen den Einstieg oder Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt und ist oft auch eine Brücke zu einer Feststelle, wie unsere Zahlen zeigen: Rund die Hälfte der Temporärarbeitenden wünscht sich eine Festanstellung. Davon wiederum findet rund die Hälfte innerhalb von zwei Jahren eine solche.

Waren es früher eher die handwerklichen Unternehmen, die auf Temporäre zurückgegriffen haben, sind heute sogenannte Flexworker auch in hoch qualifizierten Tätigkeiten zu finden. Was hat zu diesem Imagewandel der Temporärarbeit beigetragen?

Wir haben die Motive hoch qualifizierter Temporärarbeitender in einer Studie erhoben. Sie sind vielfältig, aber lassen sich letztlich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Flexibilität bei gleichzeitiger sozialer Absicherung. Auffällig sind die hohen Zufriedenheitswerte: Auf einer Skala von 0 bis 10 würden 68 Prozent der hoch qualifizierten Temporärarbeitenden die Arbeitsform mit Höchstwerten von 9 oder 10 einem Freund oder Bekannten weiterempfehlen.

In welchen Branchen sind hoch qualifizierte Flexworker hauptsächlich tätig?

Stark vertreten sind Branchen, die vom Fachkräftemangel getroffen werden, etwa die Pharmaindustrie, der IT-Bereich oder der Gesundheitssektor.

Gemessen an den Einsatzstunden wuchs das Temporärgeschäft im ersten Quartal 2022 um 21,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Was bedeutet diese gute Geschäftsentwicklung bei den Personaldienstleistern für die Gesamtwirtschaft?

Wir führen den guten Geschäftsgang auf die Kombination aus wirtschaftlichem Aufschwung und globaler politischer Unsicherheit zurück. Einerseits brauchen die Einsatzunternehmen unsere Leute, weil ihr Geschäft wächst, andererseits, weil sie in unsicheren Zeiten mit Festanstellungen zurückhaltend sind. Welches der beiden Elemente in den nächsten Quartalen überwiegen wird, lässt sich unseren Zahlen leider nicht entnehmen.

Nicht überall läuft es der Branche derzeit gut. So will der Kanton Genf im Rahmen von öffentlichen Beschaffungen den Anteil an Temporärarbeitenden auf öffentlichen Baustellen auf 20 Prozent beschränken und Quoten für kleinere Aufträge einführen. Wie wehrt sich swissstaffing gegen diesen massiven Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit?

Nachdem unser politischer Widerstand erfolglos blieb, haben wir nun den Rechtsweg beschritten und Beschwerde erhoben: Dieser Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit verstösst unseres Erachtens gegen die Bundesverfassung.

Hinter diesem Angriff steckte der Schweizerische Gewerkschaftsbund. 2019 behauptete der SGB, das «Phänomen Temporärarbeit» habe «beunruhigende Ausmasse» angenommen, und diese «potenziell prekäre Beschäftigungsform» müsse dringend stärker reguliert werden. Wie beurteilen Sie solche Diffamierungsversuche eines vermeintlichen Sozialpartners und dessen Ruf nach verstärkter Regulierung?

«Die Temporärarbeit ermöglicht vielen den Einstieg oder Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt – und ist oft auch eine Brücke zu einer Feststelle.»

Ich kann nicht nachvollziehen, wie feindselig die Gewerkschaften unter der Führung des SGB die Temporärarbeit seit Längerem beurteilen. Das ist kontraproduktiv und nützt den Beschäftigten gar nichts. Denn der Trend zur Flexibilisierung lässt sich nicht aufhalten. Aber vielleicht sind die Gewerkschaften auch im Fabrikzeitalter stecken geblieben. Innerhalb des Flexworks bietet die Temporärarbeit mit Abstand die höchste soziale Sicherheit – unter anderem dank einem GAV, den wir mit vier Gewerkschaften und Verbänden von Arbeitnehmenden ausgehandelt haben. Die Gewerkschaften könnten also durchaus auch ein Interesse daran haben, die Temporärarbeit zu stärken – aber es geschieht, wie Sie sagen, das Gegenteil. Von daher wäre die kurze Antwort auf Ihre Frage: Ich versteh’s auch nicht.

Interview:

Gerhard Enggist

www.swissstaffing.ch

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