Publiziert am: 24.01.2020

Längeres Leben und die Folgen

DEMOGRAFIE UND DEMOKRATIE – Demografische Veränderungen wirkten doppelt so stark wie solche in den Überzeugungen der Menschen. Durch die höhere Lebenserwartung werden künftig auch politische Fragen tendenziell anders beantwortet. Und: Die Schweiz muss wegkommen von einem starren Rentenalter, fanden Teilnehmer eines Podiums in Klosters.

«Wir sind noch nicht bereit, anzuerkennen, dass ‹Alter› heute etwas völlig anderes bedeutet als je in der Geschichte vor uns», hielt der 75-jährige, vife und wache Philosoph Ludwig Hasler an der Gewerblichen Winterkonferenz in Klosters fest. Während «Alte» früher arbeiteten und weiter zur Sippe gehörten, indem sie sich nützlich machten, werde heute ein willkürlicher, scharfer Schnitt gemacht, indem ums Alter von 65 herum die «Beschäftigtheit» von 100 auf 0 sinke – mit teils erschreckenden Auswirkungen. Sei das Altern früher als «Vorbereitung auf das Jenseits» begriffen worden, so komme heute «der Druck nicht mehr vom Himmel, sondern von uns selber». Die Folge: eine um sich greifende «Erlebnissucht», ein Reisen ohne Ende «aus Furcht, etwas verpasst zu haben».

«Sinn», so Hasler, ergebe sich viel eher aus dem «Mitwirken an etwas, das grösser ist als wir selber» – an der Zukunft anderer. Hasler warb dafür, «Alte» nicht als Passivmit­glieder der Gesellschaft, sondern als Akteure zu behandeln. Akteure auch, die ihre Erfahrungen länger als heute in die Arbeitswelt einbringen und im Zusammenspiel mit den Jungen deren frisches Wissen, deren Elan und deren Illusionen mit ihrem «angewandten Wissen» ergänzen sollten.

KMU seien heute eher bereit als Konzerne, den Wert der Erfahrungen älterer Menschen zu nutzen. «Dass eine höhere Lebenserwartung auch ein längeres Aktivsein erfordert, müssen uns keine Mathematiker erklären», so Hasler in seinen mit grossem Applaus verdankten Überlegungen, «das sehen heute alle, die das Thema mit wachen Augen anschauen.»

Demografie verändert Demokratie

«In den meisten Themen ändert sich die öffentliche Meinung, weil alte Menschen ihre Meinung mit ins Grab nehmen.» Demografische Veränderungen wirkten doppelt so stark wie Veränderungen in den Überzeugungen der Menschen, hielt der ehemalige Mittelstreckenprofi Stefan Breit fest, der heute am Gottlieb-Duttweiler-Institut forscht. Der Begriff «Offenheit» sei «extrem individuell» und zudem möglichst wertfrei zu betrachten. Dennoch gelte, dass die Offenheit der Menschen mit deren Lebensdauer tendenziell abnehme: «Ein längeres Leben verändert auch den Umgang mit Neuem», so Breit. Dennoch beobachte die Forschung einen Wechsel von Explorieren und Bewahren. Und: «In unterschiedlichen Bereichen altern wir unterschiedlich schnell.»

Lebenserwartung steigt – was bedeutet dies?

«Was bedeutet der demografische Wandel für die Politik?» Unter Leitung von Ex-SRF-Moderator Reto Brennwald diskutierten auf dem Podium die Ständeräte Thierry Burkart (FDP/AG) und Jakob Stark (SVP/TG) sowie die Nationalratsmitglieder Mattea Meyer (SP/ZH), Nicolo Paganini (CVP/SG) und Franziska Ryser (Grüne/SG).

«Die Einteilung der Menschen in ‹jung› und ‹alt› anhand einer Grenze von 64 oder 65 Jahren ist der grösste Fehler, den sich die Politik geleistet hat», zeigte sich Burkart überzeugt. Ein starres Rentenalter habe eine Signalwirkung auf die gesamte Gesellschaft. Eine steigende Lebenserwartung sei ja eigentlich erfreulich, doch es fehle oft an Respekt für ältere Menschen. «Mit Begriffen wie ‹alte weisse Männer› oder ‹Umweltsau› die Verantwortung für jegliche Missstände den Älteren zuzuschanzen, ist vor allem eines: eine bizarre Diskussion, die niemandem etwas bringt.»

Für Stark ist es «ein Fehler, dass die Lebenserwartung bisher nicht in die Diskussion ums Rentenalter einbezogen worden ist». Die Schweiz müsse wegkommen von einem starren Rentenalter und die Arbeitswelt flexibler gestalten: Mit einer Richtgrösse, die flexibel gehandhabt werde, mit mehr Teilzeitarbeit auch nach 64 oder 65 Jahren, tieferen BVG-Sätzen für ältere Arbeitnehmer – aber nicht einer Überbrückungsrente. «Das wäre der völlig falsche Weg», sagte Stark, «und würde den Fachkräftemangel und die Abhängigkeit von der Zuwanderung noch verstärken.» Besser seien verstärkte Anreize: «Es muss sich für die Wirtschaft lohnen, ältere Arbeitnehmende zu beschäftigen.»

Paganini warf die Frage auf, ob und wie lange es bezahlbar bleiben werde, dass Menschen «bloss 40 von möglichen 100 Lebensjahren aktiv zur Wertschöpfung beitragen». Dabei sieht der per Ende Mai abtretende Olma-Direktor aber auch die Mitarbeitenden selber in der Pflicht: «Sie müssen akzeptieren, dass ihre Rollen sich ändern, dass Löhne auch sinken können und dass Qualifikationen à jour zu halten sind.»

Die mögliche künftige SP-Co-Präsidentin Meyer wehrte sich dagegen, die steigende Lebenserwartung bei der Diskussion ums Rentenalter fix mit einzubeziehen. «Wer lebt wie lange?», fragte sie mit Blick darauf, «dass es sich gut Ausgebildete eher leisten können, früher in Rente zu gehen als Bauarbeiter oder Coiffeusen.» Man müsse sich von der Idee lösen, nur Erwerbsarbeit sei wertvolle Arbeit – und eine Überbrückungsrente für ältere Arbeitslose sei zwingend.

Die grüne ETH-Maschineningenieurin Ryser schliesslich plädierte dafür, auch Freiwilligen- und Teilzeitarbeit stärker zu schätzen und die Arbeit über die gesamte Lebensspanne zu betrachten. «Wir müssen Optionen offenhalten, gemischte Teams fördern – und anerkennen, dass die Diskussion ums Rentenalter keineswegs nur eine mathematische, aber sehr wohl eine politische ist.»

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