Publiziert am: 05.02.2021

«Nägel mit Köpfen» im Nischenmarkt

NAGELFABRIK – Das über 125-jährige Unternehmen schreibt in vielerlei Hinsicht Industriegeschichte: Als einzige Nagelproduzentin hat sich das KMU mit Spezialanfertigungen im Nischenmarkt positioniert. Zudem begeht es mit einer Selbstverwaltung ohne Chef einen unkonventionellen Weg.

Die Nagelfabrik Grüze in Winterthur hat einen bemerkenswerten Werdegang hinter sich und geht damit in die Schweizer Industriegeschichte ein. 1895 gegründet, erlebte sie die ersten zwei Jahrhunderte häufige Besitzerwechsel. Ein wahrer Glücksfall für das Unternehmen war die Familie Gratwohl, die 1983 die Schweizerische Nagelfabrik AG übernahm und rund dreieinhalb Jahrzehnte weiterführte und modernisierte. Die Firmenphilosophie des Patrons «Mensch vor Profit» trug nicht nur massgeblich zum Fortbestand der Nagelfabrik bei, sondern schweisste das Team zusammen und war somit eine wichtige Voraussetzung für den wirtschaftlichen Erfolg. Seit 1998 wird in der Schweiz nur noch in Winterthur Nägel produziert. «Dass ausgerechnet die kleinste Marktteilnehmerin überlebt hat und im 21. Jahrhundert weiterproduziert, ist zweifellos bemerkenswert», sagt Rainer Thomann. Er kennt das Nagelgeschäft wie niemand sonst und war drei Jahrzehnte bis im Sommer 2020 Geschäftsführer der Nagli. Im Oktober 2019 wurde die AG von der Genossenschaft übernommen, die keine Hierarchien kennt und schrieb somit einmal mehr Pioniergeschichte. Die sechs Mitarbeitenden produzieren heute in Selbstverwaltung ohne Chef ihre 200 Tonnen Stifte jährlich (vgl. Nebenartikel). In früheren Zeiten waren es 1300 Tonnen. Die Tonnentendenz bleibe rückläufig, sagt Thomann und der Trend gehe weiter Richtung Nischenproduktion.

Hightechnägel für Elektroautos

Wichtigstes Standbein ist das traditionelle Sortiment «Schweizer Stifte», das rund zwei Drittel des Umsatzes ausmache. «Das ist ein Markenprodukt mit über 2000 Artikelpositionen, die wir alle ab Lager liefern können», erklärt Thomann. Ein weiterer Geschäftsbereich sind Nägel für die Holzverpackungs- und Palettenindustrie. Die grosse Stärke des Unternehmens ist die Nischenproduktion, die es erlaubt in Kleinstmengen einzigartige Nägel herzustellen: «Spezialnägel und Sonderanfertigungen sind beispielsweise Nägel aus nichtrostendem ­Material, um Kunststoffdosen auf Schalungsbretter zu befestigen.» Ebenso sind «moderne Baustifte» bei neuen Techniken beim Hausbau ­gefragt. «Wir produzieren auch kleine Nägel aus Messingdraht, sogenannte Lötstife für Elektroautos», so Thomann.

«Wir müssen jederzeit offen sein für neue Kundenwünsche und neue Techniken.»

Die rund 300 Nagelsorten werden hauptsächlich über den Fachhandel oder direkt an die Verbraucher verkauft. «Unsere Kunden schätzen die gleichbleibende, hohe Qualität, die bei importierten Nägeln aufgrund des Preisdruckes nicht gewährleistet ist.» Übrigens spucken die drei Dutzend Maschinen auch ganz normale Nägel aus. Wettbewerbsfähig zu bleiben bedeutet für die Nagelfabrik vor allem, mit dem technologischen Wandel Schritt zu halten. «Wir müssen jederzeit offen sein für neue Kundenwünsche, neue Techniken, bei denen – wie gezeigt – ebenfalls «Nägel» im weitesten Sinne gebraucht werden.

«Unsere Kunden schätzen die hohe Qualität, die bei importierten Nägeln aufgrund des Preisdruckes nicht ­gewährleistet ist.»

Die benötigte Menge ist für uns nebensächlich; es ist der Kunde, der wissen muss, welche Menge er benötigt und so indirekt auch den Preis bestimmt», konkretisiert Thomann. Die sechs Mitarbeitenden sind alles Spezialisten auf ihrem Gebiet, die praxisnah im Betrieb ausgebildet wurden. Der Umsatz liegt bei einer knappen Million – Tendenz leicht sinkend. «Das macht uns keine allzu grosse Sorgen, wichtiger als der Umsatz ist die Wertschöpfung beziehungsweise der Bruttogewinn im Verhältnis zu den anfallenden Kosten», erklärt Thomann.

Als grösste Hürde erachtet der ehemalige Geschäftsführer trotz der genossenschaftlichen Lösung den Fachkräftemangel: «Die Suche nach geeigneten jungen Mitarbeitenden, die ins Team passen, dürfte künftig eine grosse Herausforderung sein», so Thomann. Ein wichtiges Thema, das für das Unternehmen in den nächsten vier Jahren aktuell ist, ist die Vorbereitung des nächsten Generationenwechsels. «Diesen müssen wir genug früh in die Wege leiten. Wir suchen deshalb in absehbarer Zeit einen Maschinenrichter.» Und er doppelt nach: «Eine starke Marktstellung und ein gut ausgebauter Maschinenpark ist nichts wert, wenn niemand mehr da ist, der die Maschinen einrichten kann.»

Corinne Remund

www.nagelfabrik.ch

HISTORISCHE FABRIK

Lebendiges Museum

Der Verein Inbahn für Industrie- und Bahnkultur führt in der Nagelfabrik ­einen Schaubetrieb mit den historischen Maschinen der Fabrik. Dabei erhalten die Interessierten einen Einblick in den Fabrikalltag von anno dazumal. Die historischen Maschinen produzieren immer noch Nägel der ersten Generation, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts gängig waren. Die Besucherrundgänge beschränken sich aber nicht nur auf die Besichtigung der historischen Maschinen, sondern führen immer durch die ganze Fabrik, wobei das Interesse für die Gegenwart und Zukunft mindestens so gross ist wie jenes für die Vergangenheit. Der Schaubetrieb, der in einen modernen Produktionsbetrieb eingebettet ist, wird so zu einem «lebendigem Museum», das in seiner Art einzigartig ist. Bis mindestens Ende 2029 soll der Musems­betrieb fortgeführt werden.

Eine öffentliche Führung findet jeweils am ersten Samstag im Monat um 11 Uhr statt – gegenwärtig ist der Schaubetrieb natürlich Corona-bedingt bis auf weiteres geschlossen.CR

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