Publiziert am: 21.10.2022

«Prinzip Hoffnung ist fehl am Platz»

ENERGIEMANGELLAGE – Mittels Check­listen sollen sich Management und Technik in den Betrieben auf eine mög­liche Energiemangellage vorbereiten. Im Auftrag des sgv hat die Beratungs­firma von Energiefachmann Daniel Meier präventive Massnahmen für Gewerbe und Industrie zusammen­ge­stellt. Diese sind auf der Website des sgv aufgeschaltet.

Schweizerische Gewerbezeitung: Im Auftrag des Schweizerischen Gewerbeverbands schlagen Sie präventive Massnahmen für Gewerbe und Industrie im Fall einer Energiemangellage vor. Weshalb sollen sich Unternehmen schon heute vertieft Gedanken machen über einen Fall, dessen Eintreten noch gar nicht sicher ist?

Daniel Meier: Es ist eine Risikoabwägung. Betreffend Mangellage halte ich das Prinzip Hoffnung für fehl am Platz und keine präventiven Massnahmen vorzunehmen für fahrlässig. Eine Energiemangellage hat es in der Schweiz meines Wissens seit 60 Jahren nie gegeben. Wir haben keine Erfahrung damit. Als Chef eines energieintensiven Unternehmens würde ich mögliche Massnahmen nicht nur vorbereiten, sondern freiwillig und präventiv umsetzen, um Erfahrungen zu sammeln und Energiekosten zu sparen.

Ihre Vorschläge für präventive Vorbereitungsmassnahmen richten Sie einerseits ans Management, andererseits an die Technik-Verantwortlichen in den Betrieben. Weshalb dieses zweigleisige Vorgehen?

Die Hauptverantwortung liegt naturgemäss beim Management. Das Management muss die richtigen Entscheidungen treffen, was ohne Kenntnis der technischen Grundlagen nicht möglich ist. Das Management und die Technik müssen zusammenarbeiten.

In einer «Energiemangel Selbstdeklaration» soll das Management Massnahmen für eine Energiemangellage – bis hin zu einer Netzabschaltung – prüfen und allenfalls umsetzen. Welches sind die wichtigsten Punkte?

Damit das Management bei einer Energiemangellage die richtigen Entscheidungen treffen kann, braucht es eine Verbraucherliste mit Verbrauchsabschätzung und, wo sinnvoll, mit Lastprofilanalyse. Der Hebel muss dort angesetzt werden, wo mit dem geringsten Risiko und Aufwand am meisten zu holen ist.

Zur Bewertung einer Netzabschaltung sollte sich das Management drei Fragen stellen: Entstehen bei einer Netzabschaltung relevante Schäden, ist das Hochfahren komplex und aufwendig und soll während der Abschaltung überhaupt weiterproduziert werden? Trifft einer dieser Fälle zu, dann sollte das Management gemäss Checkliste vorgehen.

Die Selbstdeklaration seitens der Technik unterscheidet zwischen kurz- und langfristigen Massnahmen. Welche davon haben das grösste Sparpotenzial?

Gefragt sind für den kommenden Winter die kurzfristigen Massnahmen. Das beste Aufwand-/Nutzenverhältnis haben die Lüftungsanlagen sowie der unnötige Standby-Verbrauch von Produktionsanlagen. Unnötig hohe Prozessanforderungen, zu tiefe Energiepreise oder ab und zu auch Bequemlichkeit haben bisher die Ausschöpfung dieser Potenziale verhindert.

Heizung, Kühlung, Beleuchtung, Lüftung usw.: Wo besteht – über alle Betriebe hinweg betrachtet – das grösste Strom- respektive Energiesparpotenzial?

Es gibt zwei systemübergreifende Hauptanforderungen: Erstens sollten die Infrastrukturanlagen nur nach Bedarf betrieben werden. Das Stichwort lautet: kein Betrieb ohne Nutzen. Das erfordert einige Investitionen in die Regeltechnik (Sensoren) sowie in das technische Personal, welches an Regeltechnik interessiert ist, sie versteht und die Anlagen damit energetisch optimieren kann.

Zweitens müssen die Systemtemperaturen von allen Medien – also Luft, Wasser und andere Wärmeträger – in allen Infrastruktur- und Prozessanlagen auf das machbare Minimum reduziert und Abwärme auf möglichst hohem Temperaturniveau genutzt werden. Solche Massnahmen sind langfristig zu verstehen und am besten über eine «Roadmap zur Dekarbonisierung» zu erarbeiten.

Was raten Sie einer Betriebsführung, welche die von Ihnen vorgeschlagenen Massnahmen für die eigene Firma möglichst «schmerzfrei» umsetzen möchte? Wo soll sie ansetzen?

Eine Netzabschaltung wird nicht schmerzfrei werden. Aufgrund der enormen negativen Auswirkungen auf Gesellschaft und Wirtschaft halte ich diese auch nicht für wahrscheinlich. Es können frühzeitig andere Massnahmen ergriffen werden, um dies zu verhindern. Unter anderem die Einführung von Kontingenten.

Am wenigsten Schmerzen bei einer Kontingentierung verursacht deren Einkauf über entsprechende Plattformen. Damit verschenkt man allerdings die überall noch vorhandenen Energiekosten-Einsparpotenziale im eigenen Betrieb und trägt nicht bei zur Lösung des Grundproblems.

Sollen Massnahmen umgesetzt werden, dann sind technische Massnahmen wohl schmerzfreier als organisatorische Massnahmen (z.B. Chargen-Bündelung, Zusatzschichten).

Technische Massnahmen verfolgen stets das Ziel, «nutzlosen Betrieb» von Anlagen zu reduzieren oder ganz zu vermeiden sowie Abwärme zu nutzen. Wir wissen aufgrund von Analysen, dass der energetische Gesamtwirkungsgrad bei sehr vielen produzierenden Unternehmen sehr tief liegt, und dass die Einsparpotenziale durch Effizienzsteigerung und Abwärmenutzung hoch sind. Aufgrund der gestiegenen Energiepreise ist deren Nutzung nun deutlich attraktiver geworden.

Die Herausforderung bei den technischen Massnahmen ist es, deren Potenziale erkennen und quantifizieren zu können. Aber auch dieses Problem kann schmerzfrei, wenn auch nicht kostenfrei, gelöst werden. Die Energie-Agentur der Wirtschaft (EnAW) hat viele Jahre Praxiserfahrung und steht dafür gerne zur Verfügung. Holen Sie Ihre EnAW-Moderatorin oder Ihren EnAW-Moderatoren an Bord.

Interview: Gerhard Enggist

www.sgv-usam.ch/energiemangel

www.enaw.ch

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