Publiziert am: 17.06.2022

«Situation bleibt angespannt»

WERNER LUGINBÜHL – «KMU müssen sich aufgrund der gestiegenen Gross­handelspreise auf Preiserhöhungen einstellen», sagt der Präsident der Eidgenössische Elektrizitätskommission ElCom und ehemalige Berner Regie­rungs- und Ständerat – und plädiert für den Zubau zusätzlicher Produktion im Inland.

Schweizerische Gewerbezeitung: Welche Bedeutung hat eine sichere Stromversorgung fĂĽr Wirtschaft und Gesellschaft in der Schweiz?

Werner Luginbühl: Eine sichere Stromversorgung ist für unser aller tägliches Leben existenziell. Ein längerer Ausfall von Strom hätte enorme Konsequenzen, sowohl wirtschaftlich wie auch gesellschaftlich. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz stuft in der nationalen Risikoanalyse eine Strommangellage hinsichtlich ihrer Auswirkungen denn auch als grösstes Risiko ein. Wir müssen daher alles tun, um dieses Risiko gering zu halten.

«Man konnte sich schlicht nicht vorstellen, dass es bei der sicheren Schweizer Stromversorgung zu Problemen kommen könnte.»

Eine sichere Stromversorgung galt lange als Selbstverständlichkeit. Eine aktuelle Umfrage der Schweizer Strombranche zeigt nun aber, dass die Stromversorgung der Bevölkerung grosse Sorgen bereitet. Teilen Sie diese Sorgen?

Die Schweizer Stromversorgung war bisher eine der besten und sichersten der Welt. Der durchschnittliche Schweizer Stromkonsument musste infolge ungeplanter Ausfälle im Verlaufe des ganzen vergangenen Jahres gerade mal neun Minuten auf Strom verzichten. Diese Sicherheit und Qualität war während Jahrzehnten eine Selbstverständlichkeit. Aufgrund der neuesten Entwicklungen und Herausforderungen haben viele gemerkt, dass in Zukunft eine sichere Stromversorgung kein Selbstläufer mehr sein wird.

Wenn ich auf die aktuellen Rahmenbedingungen blicke – Krieg in der Ukraine, fehlendes Stromabkommen, Ausstieg aus der Kernkraft bei gleichzeitig marginalem Zubau an neuer Produktion – teile ich diese Sorgen.

Es gilt daher alles zu unternehmen, damit wir auch in Zukunft auf eine gesicherte Stromversorgung in der Schweiz zählen können. Dies ist ein entscheidender Standortfaktor.

Wie sieht denn aktuell die Versorgungslage in Sachen Strom im Juni 2022 aus?

Im Sommer ist die Lage generell entspannter als im Winter. Obschon aktuell rund die Hälfte des französischen Kernkraftwerkparks ausser Betrieb ist und auch die Revisionen bei den Schweizer Kernkraftwerken durchgeführt werden, ist die aktuelle Versorgungslage unkritisch.

Und welche Entwicklung erwarten Sie fĂĽr das Winterhalbjahr?

Für den kommenden Winter sieht die Lage weniger gut aus. Die Verfügbarkeit des französischen Kernkraftwerkparks scheint auch im nächsten Winter eingeschränkt. Das zeigen auch die Preise am Strommarkt. Für die Schweiz heisst dies, dass im Winter kaum Strom aus Frankreich importiert werden kann. Umso wichtiger ist deshalb die Exportbereitschaft von Deutschland und Italien. Hier spielt die geopolitische Lage in der Ukraine und damit die Verfügbarkeit von Gas eine wesentliche Rolle. Auch wenn in der Schweiz im nächsten Winter voraussichtlich alle Kraftwerke am Netz sein werden, so ist sie auf rund vier Terawattstunden Import angewiesen. Dies entspricht der importierten Bandproduktion eines Kernkraftwerks in der Grösse von Gösgen oder Leibstadt. Ist im nächsten Winter die Gasversorgung in Europa sichergestellt, dürfte die Situation bewältigbar sein. Kommt es da aber zu Engpässen, dürften ausreichende Importe nicht in jedem Fall gesichert sein. Das heisst, die Situation bleibt angespannt. Die Resilienz der Schweizer Stromversorgung ist aktuell stark reduziert.

Worauf müssen sich KMU in der Stromversorgung gefasst machen: Preiserhöhung um 10 Rappen, eine Stromrationierung oder gar ein Blackout?

Ganz sicher müssen sich die KMU aufgrund der massiv gestiegenen Grosshandelspreise auf Preiserhöhungen einstellen. Der Anstieg bei den Tarifen wird gemäss einer Umfrage bei den Netzbetreibern bei durchschnittlich ca. 20 Prozent liegen. In einigen Fällen wird er aber auch deutlich mehr sein. Die angespannte Situation im Markt und die hohe Volatilität im Grosshandel wird zudem weiter anhalten. Ob es tatsächlich Stromrationierungen braucht, hängt wesentlich von der Exportfähigkeit der Nachbarstaaten ab.

Betriebe mit einem Jahresverbrauch von 150 000 Kilowattstunden mĂĽssten Mehrkosten von rund 6000 Franken in Kauf nehmen, rechnet die ElCom vor. Von welcher Art Betriebe reden wir hier konkret?

Ein Verbrauch von 150 000 Kilowattstunden entspricht einem mittleren Betrieb, also zum Beispiel einer grossen Bäckerei.

Dass die Kosten steigen, ist das eine. Dass einmal gar kein Strom mehr fliessen könnte, ist ein weitaus grösseres Problem. Wie steht es um die Versorgungssicherheit?

Wie erwähnt hängt die Versorgungssicherheit im kommenden Winter stark von den Importmöglichkeiten ab. Es kann gut sein, dass wir keine Probleme haben. Wenn mehrere Stressfaktoren zusammenfallen, können wir aber in eine ungemütliche Situation kommen. Für die Zeit ab 2025 benötigen wir zumindest ein technisches Abkommen mit den umliegenden Staaten, damit genügend Importkapazitäten verfügbar sind. Im Inland braucht es darüber hinaus Reservekraftwerke. Für die Sicherung der Versorgungssicherheit auf lange Sicht braucht es einen beschleunigten, massiven Zubau von inländischen Produktionskapazitäten.

Die Eidgenössische Elektrizitätskommission ElCom, die Sie präsidieren, warnt seit vier Jahren, dass die Schweiz mittelfristig Probleme mit ihrer Stromversorgung bekommen wird. Wieso wurde diese Warnung nicht ernstgenommen?

Zu Beginn wurde die Warnung tatsächlich zu wenig ernst genommen. Dies wohl, weil man sich schlicht nicht vorstellen konnte, dass es bei der sicheren Schweizer Stromversorgung zu Problemen kommen könnte. In der Zwischenzeit hat man gesehen, dass neben den längerfristigen Herausforderungen (Ersatz KKW) auch kurzfristige Probleme (fehlendes Stromabkommen, Ukrainekrieg) aufgetreten sind. Dies hat bei vielen zu einem Umdenken geführt. Unsere Warnungen werden heute ernster genommen. Verschiedene unserer Anliegen wurden in der Zwischenzeit von der Politik aufgenommen. Das ist erfreulich, zeigt aber auch: Wenn erst gehandelt wird, wenn sich der Engpass bereits abzeichnet, ist es schon zu spät. Deshalb appelliert die ElCom dafür, bei der Stromversorgung für eine ausreichende Resilienz zu sorgen.

Die Schweiz verlässt sich vor allem im Winter auf den Import von Strom aus dem Ausland. Nun kämpfen aber auch unsere Nachbarn um eine ausreichende Versorgung. Sind diese Importe also nicht mehr gesichert?

Eine reine Importstrategie ist mit zu grossen Risiken verbunden, darauf hat die ElCom bereits vor Jahren hingewiesen. Die aktuell schlechte Verfügbarkeit der französischen Kernkraftwerke zeigt dies eindrücklich. Und diese Kraftwerke werden nicht jünger. Ein struktureller Importbedarf von einigen Terawattstunden im Winter erscheint aufgrund der guten internationalen Anbindung und der flexiblen Wasserkraft als versorgungstechnisch vertretbar und energie- und volkswirtschaftlich sinnvoll. Muss jedoch bis zu einem Drittel des Verbrauchs importiert werden, erachten wir dies als zu risikobehaftet und nicht akzeptabel.

«Eine reine Importstrategie ist mit zu grossen Risiken verbunden.»

Die Schweiz muss den Hebel beim effizienten Stromverbrauch ansetzen. Ist eine Steigerung der Produktion nicht ebenso wichtig?

Die Verbesserung der Effizienz ist wichtig und kann einen wesentlichen Beitrag leisten. Aufgrund des Mehrbedarfs durch die Elektrifizierung (Elektromobilität und Wärmepumpen) und der geplanten Ausserbetriebnahme der KKW muss der Fokus jedoch dringend auf zusätzliche Produktion gelegt werden.

Die Schweiz hat vor fünf Jahren – unter komplett anderen Umständen, als wir sie heute kennen – für einen Ausstieg aus der Kernkraft votiert. Macht es vor dem Hintergrund der Widerstände beim Ausbau der Erneuerbaren aus Ihrer Sicht Sinn, diesen Entscheid nochmals zu überdenken?

Bei absehbaren Engpässen und den damit verbundenen hohen Preisen dürfte es wirtschaftlich interessant sein, weiter in die bestehenden Kernkraftwerke zu investieren. Die aktuelle Situation in Frankreich zeigt aber, dass es bei einem alternden Kraftwerkspark zu Engpässen kommen kann. Aus diesem Grund ist der Zubau von zusätzlicher Produktion in der Schweiz unabdingbar. Die Frage, in welcher Form dies geschehen soll, muss von der Politik beantwortet werden.

Interview: Gerhard Enggist

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