Publiziert am: 22.02.2019

«So unattraktiv wie möglich»

tempo 30 in Bern – Am liebsten «Tempo 0»: Der motorisierte Individualverkehr ist den rot-grünen Städten ein Dorn im Auge.

Auch in der Stadt Bern gehört Tempo 30 zur Heiligen Schrift der rot-grünen Mehrheit. Knapp zwei Drittel des Strassennetzes – ohne Autobahn – sind verkehrsberuhigt. Dabei gilt auf 189 Kilometern Tempo 30 und in den Begegnungszonen auf 24 Kilometern Tempo 20.

Doch damit nicht genug: «Auf diversen Strassen sollen Tempo-30-Abschnitte geplant und noch im Jahr 2019 eingeführt werden», liess der Gemeinderat (Exekutive) im September 2018 verlauten. «Damit sollen Lücken im Tempo-30-Netz geschlossen und zusätzliche Quartiere beruhigt werden.»

«Um den Verwaltungsaufwand zu minimieren», seien die neuen Vorhaben im «Paket 2018» zusammengefasst worden. Grund: Das Standardargument der städtischen Verkehrsberuhiger rund um die ehemalige SP-Fraktionschefin und heutige Stadtberner Verkehrsdirektorin Ursula Wyss: «Mehr Sicherheit und weniger Lärm.» Gegner der grossflächigen Verkehrsbehinderung sehen den Wunsch nach «Tempo 0» als eigentliche Motivation – ein in Etappen zu erreichendes Fernziel quasi.

Entlarvendes Objekt

Ein Objekt, das die obgenannte These stützt, ist die Monbijoubrücke. Auch dort soll künftig Tempo 30 gelten. Die 1962 erbaute Brücke – sie wurde damals als Teil einer leistungsfähigen Südtangente konzipiert – führt den Verkehr über die Aare. Mit bester Sicht aufs Bundeshaus und das Stadtbad Marzili. Weiter geht die Strasse vorbei an der Eidgenössischen Steuerverwaltung und der «Titanic» (Bundesamt für Informatik und Telekommunikation) bis hin zum Eigerplatz.

Täglich benutzen rund 15 000 Fahrzeuge diese Verbindung. Beidseits der Brücke stehen – wie bei Brücken üblich – keine Wohnhäuser; folglich sticht das Argument «Temporeduktion zugunsten lärmgeplagter Anwohner» hier nicht.

«So unattraktiv wie möglich»

Im Stadtparlament folgten im vergangenen Dezember denn auch sehr kritische Voten. «In Bezug auf Tempo 30 auf der Monbijoubrücke sind wir skeptisch», sagte etwa glp-Vertreter Maurice Lindgren: «Es ist fraglich, ob dies, auf einer Strasse von der Breite einer Startbahn für Flugzeuge und ohne Anwohner, das richtige Mittel ist.»

Dem Jungfreisinnigen Oliver Berger fiel «das dahinterstehende Motiv auf, welches nichts Gutes verheisst: Diese Transitachse soll für den MIV so unattraktiv wie möglich gemacht werden.» Die Südtangente gehöre zweifelsohne «zu den verkehrsorientierten Strassen, die einen flüssigen, sicheren und wirtschaftlichen Transport erlauben», so Berger weiter. «Die betreffenden Strassen erfüllen Durchgangs- und Verbindungsfunktionen und sind speziell auf die Bedürfnisse des motorisierten Verkehrs ausgerichtet. Die Stadt Bern versucht seit Längerem, diese Unterscheidung aufzuheben.»

SVP-Stadtrat Alexander Feuz schliesslich erinnerte an die alten Römerstrassen, die von grosser Bedeutung für den Handel und die Wirtschaft waren, oder an den Brückenbau im Mittelalter. Ihr Zweck sei es gewesen, die Städte mit dem Umland zu verbinden. «Es geht nicht an, dass die Stadt jetzt das Gegenteil macht und sich gegen den Verkehr abzuschotten versucht.»

Mit Verweis auf die parlamentarische Initiative von SVP-Nationalrat Gregor Rutz (vgl. Haupttext) verlangte Feuz die Rückweisung des Geschäfts – ohne Erfolg.

Das Gewerbe soll’s richten

Die Ratsrechte kam mit ihren Anliegen – wie in Bern üblich – nicht durch. Die «antiquierte Stadtautobahn», wie ein SP-Vertreter die auch für KMU wichtige Verkehrsverbindung nannte, soll «endlich in eine quartierverträgliche und sichere Verkehrsachse» verwandelt werden.

Der Witz an der Geschichte: Im Sandrain, dem Gebiet gleich unter der Monbijoubrücke, soll ein neues Wohnquartier mit rund 350 Wohnungen gebaut werden. Inmitten dieses Perimeters liegt mit dem Jugendclub Gaskessel eines von mehreren Heiligtümern des rot-grünen Bern – und ein steter Quell der andernorts so vehement bekämpften Lärmimmissionen. Der Gaskessel habe eben «eine sehr spezielle Identität» und müsse deshalb am heutigen Ort belassen werden, gab der städtische Finanzdirektor Michael Aebersold (SP) zu Protokoll, um sogleich einen Vorschlag für das zu erwartende Lärmproblem zu liefern: Rund um den Gaskessel sollen Gewerberäume entstehen, als akustischer Cordon sanitaire sozusagen. Nun sage einer, das Gewerbe sei in Bern nicht mehr erwünscht…En

Tempo 30 in Basel-Stadt

«Eine ideologische Frage»

In Basel-Stadt gibt es seit einigen Jahren die sogenannte Strassennetzhierarchie. Sie unterscheidet zwischen «verkehrsorientierten» und «siedlungsorientierten» Strassen. Zwar schreibt das Amt für Mobilität auf seiner Webseite, dass dieses hierarchisch gegliederte Netz wichtig sei und damit «die Bedürfnisse aller Verkehrsteilnehmer» abgedeckt werden müssten. Bei der Umsetzung scheint man es jedoch nicht mehr so genau zu nehmen.

Siedlungsorientierte Strassen mit Tempo 30 oder gar Tempo 20 sind weitgehend unbestritten. Doch seit einigen Jahren werden auch verkehrsorien­tierte Strassen zu Tempo-30-Strecken erklärt. «Es begann mit der Einführung von Tempo 30 in der Grenzacherstrasse im Bereich des Roche-Areals auf Druck ebendieser», sagt Patrick Erny, Leiter Politik beim Gewerbeverband Basel-Stadt. Inzwischen kennt die Stadt 86 Tempo-30-Projekte, 52 davon sind vollständig umgesetzt.

Oftmals kam der Input von rot-grünen Parlamentariern – wenn nicht sogar von der Verwaltung selbst. «Die Absicht ist in aller Regel politisch begründet und liegt in der starken Abneigung dieser Kreise gegenüber dem motorisierten Individualverkehr», so Erny.

Die Dämme brechen

Zwar gibt es durchaus Widerstand. So wehrte sich der ACS beider Basel gegen Tempo 30 in der Sevogelstrasse. Sie ist eine verkehrsorientierte Ausnahmetransportroute und wichtige Erschliessung für das Gellert-Quartier. Es ging bis vor Bundesgericht – der ACS verlor (März 2018) und wittert einen politischen Entscheid.

Überraschend dabei: Sowohl das Bundesamt für Strassen (ASTRA) als auch das Bundesamt für Umwelt (BAFU) hatten in ihren Stellungnahmen nämlich Bedenken geäussert und ein neues Gutachten resp. ergänzende Abklärungen verlangt.

«Wie zu befürchten war, beurteilt das Basler Bau- und Verkehrsdepartement diesen Entscheid in dem Sinne als ‹wegweisend›, als dass Tempo 30 somit auch auf verkehrsorientierten Hauptverkehrsachsen zulässig sei», meint der ACS. Patrick Erny: «Seit diesem Bundesgerichtsentscheid scheinen in Basel sämtliche Dämme zu brechen.»

«Eine ideologische Frage»

Selbst Hauptverkehrsachsen – nach den Autobahnen die zweithöchste Strassenkategorie in Basel-Stadt – sind vor der «Tempo-30-Kur» nicht mehr gefeiht. Dafür greift der Regierungsrat tief in die Trickkiste: Um die Kanalisierungswirkung aufrechtzuerhalten, wird auf den bundesrechtlich eigentlich verpflichtenden Rechtsvortritt in Tempo-30-Zonen verzichtet. Für Patrick Erny ein weiterer Beweis: «Es handelt sich hierbei letztlich nur um eine ideolo­gische Frage.»uhl

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