Publiziert am: 18.03.2022

«Von der Kette zum Netzwerk»

VERSORGUNGSSICHERHEIT – «Aktuell kenne ich keine Branche, die nicht auf irgendeine Art und Weise von Lie­fer­engpässen betroffen ist», sagt Supply Chain Manager David Suana. «Fakt ist, dass wir wieder in Zeiten mit ver­mehr­ter Unsicherheit und Volatilität leben.»

Schweizerische Gewerbezeitung: In der Schweiz herrscht derzeit eine schwere Mangellage bei starken Schmerzmitteln. Wie haben Sie reagiert, als Sie diese Meldung gehört haben?

David Suana: Die Freigabe der Pflichtlager an Opioiden hat mich nicht überrascht. Die Entscheidung in der aktuellen Situation zeigt, wie wichtig solche vom Bund vorgegebenen Vorräte sind, insbesondere für eine stark von Importen abhängige Volkswirtschaft wie die unsere. Sicherheitsbestände in Lieferketten erfüllen die gleiche Aufgabe, nämlich die Versorgungssicherheit der Kunden bei kurzfristigen Diskontinuitäten gewährleisten zu können. Während sie in den fetten Jahren oft Optimierungsinitiativen zum Opfer fallen, können solche Redundanzen Unternehmen in Krisenzeiten einen kompetitiven Vorteil geben und ihnen Zeit verschaffen, sich neu auszurichten respektive sich kreativ um alternative Versorgungsstrategien zu kümmern.

Wo sonst hapert es momentan beim Nachschub?

Die aktuellen Engpässe sind auf breiter Front anzutreffen. Von Mikrochips über Plastik und Karton bis hin zu Sonnenblumenöl. Aktuell kenne ich keine Branche, die nicht auf irgendeine Art und Weise von Lieferengpässen betroffen ist. Dies hat dazu geführt, dass das Lieferkettenmanagement sich in vielen Unternehmen von einem Kostenfaktor zu einem echten Wettbewerbsvorteil entwickeln konnte.

Was sind aktuell die wichtigsten Gründe für die anhaltenden Probleme in den weltweiten Lieferketten?

Wichtig zu wissen ist, dass wir nicht in den in Lehrbüchern anzutreffenden, linearen Lieferketten agieren, sondern in komplexen Netzwerken mit diversen Interdependenzen. Die Knoten in diesem Netzwerk operieren aktuell nicht mehr im Takt – sind also nicht aufeinander abgestimmt. Dafür gibt es offensichtliche und weniger offensichtliche Gründe. Zu den offensichtlichen Gründen gehören etwa die Folgen der globalen Pandemie, welche nicht nur die Personalplanung, sondern auch das Konsumentenverhalten und die Absatzplanung durcheinandergebracht hat. Aber auch die Blockade des Suezkanals oder der aktuelle Konflikt in der Ukraine gehören dazu.

Zu den weniger offensichtlichen Gründen zählen beispielsweise der kalte Winter in den südlichen Vereinigten Staaten oder die klimabedingten Ernteausfälle in Südostasien. Fakt ist, dass wir wieder in Zeiten mit vermehrter Unsicherheit und Volatilität leben. Unsere Lieferketten waren in Jahren vor der Pandemie nicht auf Eventualitäten ausgelegt, sondern auf Effizienz getrimmt.

Was kann die Schweiz tun, um ihre Versorgungssicherheit zu erhöhen?

Die Schweiz hat bekanntlich wenig eigene natürliche Ressourcen, und wir sind darum stark von Importen abhängig. Für die Grundversorgung hat der Bund deshalb eine umfassende Strategie für Pflichtlager. Einzelne Bestände werden jetzt erhöht respektive reduziert werden müssen, um sie an die aktuellen Umstände anzupassen. Bei den Pflichtlagern an Energien muss zudem sichergestellt werden, dass der Bund eine Strategie hat, die mit der anvisierten Energiewende in Einklang steht. Ausserdem muss jedes Unternehmen für sich selbst eine umfassende Strategie zur Versorgungssicherheit zurechtlegen. Diese beinhaltet mehr als das klassische, eher statisch ausgerichtete Risikomanagement. Es gilt Fähigkeiten aufzubauen, um auf unvorhergesehene Eventualitäten schnell reagieren und sich an veränderte Bedingungen anpassen zu können.

Worauf müssen einzelne Firmen achten, wenn sie ihre Resilienz gegenüber den Lieferkettenproblemen steigern wollen?

Viele Unternehmen haben erkannt, dass ihre Lieferketten resilienter werden müssen. Die Operationalisierung bereitet hingegen vielen Entscheidungsträgerinnen und -trägern Mühe. Der «Supply Chain Think Tank» von Peer Consult hat sich diesem Thema angenommen und ist dabei, zusammen mit über vierzig Vertreterinnen und Vertretern aus der Wirtschaft, die entscheidenden branchenübergreifenden Erfolgsfaktoren zu definieren. Denn es geht beispielsweise um die Erhöhung der beschaffungs- und absatzseitigen Visibilität, eine vollständige, ganzheitliche integrierte Absatz- und Produktionsplanung oder die Transformation von einer Wertschöpfungskette hin zum Wertschöpfungsnetzwerk. Zudem ist der Think Tank dabei, ein «Benchmarking» zu etablieren, um die Reife der eigenen Resilienz im Vergleich zu anderen Unternehmen messbar zu machen.

Was raten Sie KMU, die ihre Risiken besser in den Griff bekommen wollen?

Fundamental ist die Auseinandersetzung mit dem Begriff «Risiko». Die Geschäftsleitungen müssen betreffend Risikoappetit und Risiko-toleranz Klarheit schaffen und ihre Lieferkette entsprechend ausrichten. Des Weiteren muss verstanden werden, dass viele Lieferketten vernetzter und komplexer sind als angenommen.

«Der Klassische risikomanagement-ansatz muss überdacht werden.»

Dies führt dazu, dass der klassische Risikomanagementansatz überdacht werden sollte. Denn mit einer Erhöhung der Anzahl potenzieller Risiken, deren Eintrittshäufigkeit und Auswirkung gilt es, mit Lieferkettenresilienz einen ganzheitlicheren Ansatz umzusetzen. Neben den obgenannten Beispielen von Erfolgsfaktoren geht es auch um die Ausrichtung der Unternehmenskultur und -struktur auf eine von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität geprägte Geschäftswelt, die Schaffung von stabilen, aber zugleich agilen Prozessen sowie um eine umsetzbare Digitalisierungsstrategie.

Was kann die Digitalisierung zur Früherkennung von Risiken beitragen?

Sehr viel. Vor allem, indem sie einen Informationsvorsprung schafft, der sogar selbstkorrigierend in Prozesse eingreift. So gibt es Software, die Stücklisten und Stammdaten täglich mit diversen öffentlichen Informationsquellen abgleicht, um beispielsweise frühzeitig vor einem Streik im Lieferantenwerk zu warnen oder der Schliessung eines internationalen Hafens mit alternativen Routen frühzeitig entgegenzuwirken. Oder Digitale Zwillinge, die es einem erlauben, die Auswirkung von Szenarien auf die Lieferkette zu simulieren und das Netzwerk zu optimieren.

Derzeit wird über eine mögliche Rückverlagerung der Produktion nach Europa diskutiert. Ist das der richtige Weg?

Dazu gibt es keine allgemein gültige Antwort, und jeder Fall muss individuell evaluiert werden. Fakt ist, dass unsere Lieferketten trotz allem konkurrenzfähig bleiben müssen. Mit der Investition in hochautomatisierte Produktionsbetriebe ist eine konkurrenzfähige Produktion auch in Europa denkbar. Die Rückverlagerung der Produktion allein erhöht aber die Versorgungssicherheit nicht. Zudem ist ein «Re-Shoring» nicht von heute auf morgen umgesetzt. Solche Entscheidungen müssen langfristig geplant werden – auch unter Berücksichtigung der Nachhaltigkeit. Eine fundamentale strategische Kehrtwende aufgrund der Entwicklungen der letzten Jahre wäre meines Erachtens fehl am Platz.

Manche sehen die Globalisierung bereits am Ende. Wie ist Ihre Wahrnehmung?

Die Globalisierung ist nicht am Ende. Einerseits zeigen die aktuellen Engpässe uns auf, wie vernetzt unsere Lieferketten sind und wie abhängig wir voneinander geworden sind. Auf der anderen Seite haben die jüngsten Entwicklungen die natürliche Resilienz von globalen Liefernetzwerken aufgezeigt. Denn abgesehenen von gestiegenen Preisen und längeren Lieferzeiten ist es zum anfänglich befürchteten Kollaps der Versorgungsketten nie gekommen.

Eine Strommangellage bis hin zu einem Blackout gilt als eines der grössten Risiken für die Schweiz. Wie soll das Land diesem Pro-blem begegnen?

Das ist durchaus ein realistisches Risiko für den Produktionsstandort Schweiz. Wie das Land diesem Problem begegnen soll, kann ich nicht sagen. Klar ist aber, dass es wie in jeder Lieferkette einer Abstimmung zwischen Beschaffung und Absatz bedarf und Lösungen gefunden werden müssen, um ein allfälliges Delta zu schliessen, ohne den Wohlstand zu gefährden und der Umwelt zu schaden.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine und die Sanktionen verteuern die Energie massiv. Wie wird sich die Lage weiter entwickeln?

Ich gehe davon aus, dass die Auswirkungen kurz- bis mittelfristig sind, bis eine Umstellung auf alternative Beschaffungsmärkte klappt. Diese Märkte gibt es. Kurzfristig werden wir aber wohl oder übel die Preissteigerungen hinnehmen müssen. Da sind jene Unternehmen im Vorteil, die ihren Bedarf antizipiert haben und ihre Konditionen frühzeitig sichern konnten.

Interview: Gerhard Enggist

www.trustsquare.ch

ZUR PERSON

David Suana (41) ist verantwortlich für Supply Chain & Operations in einem internationalen Schweizer Chemieunternehmen und Partner bei der Peer Consult GmbH, welche in Zusammenarbeit mit der Trust Square AG im Jahr 2020 den Swiss Supply Chain Think Tank ins Leben gerufen hat.

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