Publiziert am: 20.10.2023

«Ich kann den Frust verstehen»

LEO MÜLLER – «Mit der Digitalisierung haben sich sowohl im klassischen E-Commerce-Bereich als auch in anderen Sparten ganz neue Chancen für selbst­ständig Erwerbende eröffnet», sagt der Luzerner Mitte-Nationalrat. Doch die aktuellen Gesetze tragen der Arbeits­welt 4.0 nicht ausreichend Rechnung.

Schweizerische Gewerbezeitung: Spätestens seit der Covid-19-Pandemie – Stichwort Homeoffice – sind die Veränderungen, welche die Arbeitswelt 4.0 für unselbstständig Erwerbstätige mit sich bringt, in aller Munde. Wie steht es diesbezüglich mit den Selbstständigen?

Leo Müller: Auch für Selbstständige birgt die Arbeitswelt 4.0 enorme Chancen. Unsere Gesetze und die behördliche Praxis müssen aber zulassen, dass diese Chancen genutzt werden können.

In welchen Branchen wird heute vor allem selbstständig und digital gearbeitet?

Selbstständige digitale Arbeit existiert heute in vielen verschiedenen Formen und Branchen. Der Begriff «Plattformarbeit» fasst bspw. Dienstleistende aus Sektoren zusammen, wo die Beschäftigten durch eine Plattform ihre Aufträge erhalten oder generieren (z. B. via Uber, Airbnb). Nicht zu verwechseln sind die Plattform-Beschäftigten von der grossen Zahl von selbstständigen Mikrounternehmern und -unternehmerinnen, die a) eine oder mehrere Lieferfirmen haben, und b) ihre Kunden selbstständig suchen müssen. Das nennt man Empfehlungs- oder Networkmarketing. Hier sind Leute gefragt mit Unternehmergeist und Eigenverantwortung. Beim Networkmarketing wurde früher v. a. mit persönlichen Kundenbesuchen und mit dem Telefon gearbeitet. Dank dem Internet nutzen selbstständige Networker heute selbstverständlich auch die digitalen Medien, um ihre Produkte und Dienste anzubieten.

Kurz: Mit der Digitalisierung haben sich sowohl im klassischen E-Commerce-Bereich als auch in anderen Sparten ganz neue Chancen für selbstständig Erwerbende eröffnet. Man benötigt kein eigenes Büro mehr, kann von überall her arbeiten und ist auch zeitlich flexibel.

Von wie vielen Unternehmerinnen und Unternehmern – zur Hauptsache Mikrounternehmen – sprechen wir hier?

Leider fehlen dazu umfassende Zahlen. Dies habe ich vom Bundesrat auch schon gefordert. Im Bereich des Netzwerkmarketings ist jedoch bekannt, dass es ungefähr 60 000–70 000 Selbständigerwerbende in der Schweiz sind, welche einen jährlichen Umsatz von ca. 200 Millionen Franken erwirtschaften.

Ăśber welche Zahlen verfĂĽgt das Bundesamt fĂĽr Statistik, um das Potenzial der digitalen Wirtschaft abzubilden?

Das Bundesamt für Statistik (BFS) erfasst im Rahmen der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) jedes Jahr die Erwerbsstruktur und das Erwerbsverhalten der ständigen Wohnbevölkerung. Im Jahr 2019 wurden dabei zum ersten Mal auch Daten zur «Plattformarbeit» zusammengetragen, jedoch nicht jene der Mikrounternehmen wie des Networkmarketings. So fehlen hier wichtige Daten. Ein umfassendes Bild zur digitalen Arbeit und dem damit verbundenen Potenzial fehlt daher noch immer, obwohl eine solche Erhebung mit wenigen zusätzlichen Fragen insbesondere, was das Networkmarketing angeht, einfach zu bewerkstelligen wäre und wichtige Einblicke liefern würde. Vor allem für den Bund, das SECO, die Kantone, die Wirtschafts- und Berufsverbände usw. wäre von Interesse zu sehen, wie sich die Arbeitswelt verändert und sich neue Potenziale eröffnen.

Vor einem Jahr haben Sie eine Interpellation zum Thema «Selbstständigkeit im digitalen Zeitalter» eingereicht. Darin kritisieren Sie, dass selbstständiges digitales Unternehmertum von den Behörden eher behindert als gefördert werde. Was bringt Sie zu diesem Befund?

Unsere aktuellen Gesetze tragen der Arbeitswelt 4.0 noch nicht ausreichend Rechnung. In einigen Bereichen wie bspw. der Plattformarbeit konnten zwar Fortschritte erzielt werden, in anderen Segmenten wie dem Networkmarketing hinken wir hingegen noch stark hinterher. Dort beobachten wir, dass der Schritt in die Selbstständigkeit, z. B. als Networker/in und damit ins eigenverantwortliche Mikro-Unternehmertum, durch die aktuelle Praxis erschwert wird. Dabei ist es für eine Wirtschaft und den Staat von grösstem Interesse, dass bestimmte innovative Menschen selbstständig werden wollen, Eigenverantwortung übernehmen und das Risiko des selbstständigen und eigenen Mikrounternehmertums auf sich nehmen. Wie ich vom SVNM weiss, dem Schweizer Verband Networkmarketing, sind viele Leute in diesem Bereich sehr erfolgreich und können mit Tüchtigkeit und Engagement viel erreichen. Das ist gut für die Wirtschaft und den Staat.

Die heutigen Gesetze trĂĽgen der Arbeitswelt 4.0 nicht ausreichend Rechnung, finden Sie. Wo mĂĽsste Ihrer Meinung nach der Hebel angesetzt werden?

Insbesondere das Zivil-, das Sozialversicherungs- und damit in Verbindung stehend auch das Steuerrecht gehen noch von veralteten Strukturen aus. Als gutes Beispiel dient auch hier wieder das Netzwerkmarketing: Dort haben Selbstständigerwerbende grosse Probleme, sich bei der Sozialversicherung als Selbstständigerwerbender/Mikrounternehmer eintragen zu lassen und eigenständig die Sozialversicherungsabgaben zu leisten. Das Resultat ist, dass diese Personen dann oft keinen anderen Ausweg sehen, als schlicht auf eine Abrechnung zu verzichten und sich somit quasi in die Illegalität zu begeben. Das ist doch nicht zielführend! Damit bestraft man die Tüchtigen, und dem Staat entgehen wertvolle Sozialversicherungsbeiträge.

Das Steuerrecht auf der anderen Seite wäre hier schon einen Schritt weiter und anerkennt die Option des «selbstständigen Nebenerwerbs». Da steuerliche Belange jedoch meist eng mit sozialversicherungstechnischen Fragen zusammenhängen, entstehen auch dort immer wieder Probleme.

Hier müssten die Behörden also den Hebel ansetzen und die Voraussetzung schaffen, dass diese Art von Unternehmertum, gerade im Networkmarketing-/E-Commerce-Bereich nicht gehemmt, sondern gefördert werden.

«Die Leidtragenden sind die wachsende Zahl der Selbstständigen – und ebenso die Sozialver-sicherungen, welche dadurch weniger Einnahmen haben.»

Die aktuelle Praxis erschwere den Schritt ins Unternehmertum und damit in die digitale Selbstständigkeit massiv, sagen Sie. Welche Beispiele können Sie dazu nennen?

Unternehmer und Unternehmerinnen müssen in der Praxis beispielsweise bestimmte Kriterien erfüllen, um als selbstständig anerkannt zu werden. Das Problem ist jedoch, dass diese Kriterien der heutigen Realität oft nicht mehr entsprechen. So zählen das Vorhandensein eigener Geschäfts- und Lagerräumlichkeiten, die Anstellung von Personal oder auch das Tragen eines beträchtlichen wirtschaftlichen Risikos zu den zu erfüllenden Kriterien. Tatsächlich sind in der Arbeitswelt 4.0 aber häufig weder eigene Geschäftsräumlichkeiten noch ein Lager oder zusätzliches Personal erforderlich, um selbstständig unter-nehmerisch tätig zu sein. Das ist die heutige Realität.

Liest man die Antwort des Bundesrats zu Ihrem Vorstoss, dann lautet sie kurz zusammengefasst: «Alles kein Problem.» Wie interpretieren Sie das offensichtliche Desinteresse der Behörden resp. des Bundesrats am Thema?

Der Bundesrat findet, dass die momentane beitragsrechtliche Unterscheidung der Selbstständigerwerbenden von den Unselbstständigerwerbenden genügend flexibel sei, und alle Beschäftigungsformen – auch die Geschäftsmodelle der digitalen Wirtschaft – abdecke. Das Problem liegt jedoch in der Praxis, wie bereits erwähnt. Auf mich wirkt es fast so, als ob die Behörden, insbesondere das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) und die kantonalen Sozialversicherungsanstalten, Mühe haben, mit der Arbeitswelt 4.0 mitzuhalten und den Wandel von Arbeitsformen und -verhältnissen praxistauglich zu machen. Dadurch wird den Mikrounternehmern gar nicht die Chance gegeben, ihr Geschäft legal und ohne Risiken hinsichtlich gesetzliche Vorgaben zu betreiben. Die Leidtragenden sind einerseits die wachsende Zahl der selbstständig arbeitenden Personen und andererseits die Sozialversicherungen, welche dadurch weniger Einnahmen haben. Das kann doch nicht in unserem Interesse sein.

Für wichtige Branchenverbände – etwa den Verband für Personaldienstleister Swissstaffing oder den Schweizerischen Verband Network Marketing – ist es von grossem Interesse, dass die Behörden mit den Veränderungen der Privatwirtschaft Schritt halten. Wie interpretieren Sie die Tatsache, dass dies offensichtlich nicht der Fall ist?

Ich kann den Frust der Selbstständigerwerbenden gut nachvollziehen. Natürlich sind die Prozesse in der Politik langsamer als in der Privatwirtschaft. Jedoch darf sich auch die Politik neuen Arbeitsformen und Modellen nicht verschliessen und muss sich vom traditionellen Bild der Arbeit lösen. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformationsprozesse müssen entschlossen angegangen werden. Ansonsten riskieren wir, dass sich eine ganze Berufsgruppe in regulatorischer Schwebe bewegt und/oder (un)wissentlich sogar in die Illegalität begibt.

Im März 2023 hat der Nationalrat die Diskussion Ihrer Interpellation verschoben. Wann steht sie wieder auf der Tagesordnung?

Gewöhnliche Interpellationen werden in der Praxis leider nur noch im Ständerat diskutiert. Meine Interpellation ist mit der Antwort des Bundesrats faktisch «erledigt». Doch die beschriebene Problematik besteht leider weiter und wird nicht kleiner.

Ich fordere deshalb das SECO und das BSV auf, das Thema ernst zu nehmen, und sich aktiv darum zu kümmern – umso mehr, als es um minimale Anpassungen geht. Wir werden dies aktiv mitverfolgen und auch fraktionsintern prüfen, ob weitere Schritte nötig sind.

Interview: Gerhard Enggist

www.leo-mueller.ch

www.swissstaffing.ch

www.svnm.ch

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