Publiziert am: 04.03.2022

Ein Kampf gegen Windmühlen

FINANZEN – ESG, Nachhaltigkeit, Klimaverträglichkeit, Soziales und andere wunderbar klingenden Schlagworte sind vor allem eines: schädlich. Sie erschweren die Anlagetätigkeit und gefährden somit Rentabilität, Liquidität und Sicherheit.

Environmental, Social & Governance – ESG – zu Deutsch: Umwelt, Soziales und Unternehmensführung. Nachhaltigkeit, Klima- und Sozial-verträglichkeit. Mit diesen Schlagworten wirft die Finanzbranche immer häufiger um sich. Jene, die bis vor Kurzem Hedge-Fonds und Derivative verkauft haben, merken plötzlich, dass der Regenbogen zu ihrer DNA gehört ... Widersprüchlich ist das nur auf den ersten Blick, denn wir wissen: Alles, was den Bonus erhöht, ist aus Definition gut.

Inhärente Zielkonflikte

Doch von Anfang an: Seit einigen Jahren haben Begriffe wie ESG oder Nachhaltigkeit Einzug in die Investment- und Finanzwelt gehalten. Ob angebots- oder nachfragegetrieben, die aktuelle Auseinandersetzung damit ist überall. Doch sie erfolgt meist nur oberflächlich. Schnell wird etwa ESG mit Nachhaltigkeit gleichgesetzt. Noch schneller werden beide auf Umwelt- oder – noch enger – auf Klimaschutz reduziert. Kaum je werden alle von diesen Begriffen abgedeckten Dimensionen thematisiert. Und praktisch nie werden inhärente Zielkonflikte zur Sprache gebracht.

Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen. Erstens: Für die gesellschaftliche Entwicklung von Ländern ist oft Nutzung, wenn nicht auch Schaden, an der natürlichen Umwelt notwendig. Es ist etwa nicht möglich, Indien aus der Armut zu hieven, ohne die Natur – auch zu ihrem Schaden – dafür einzusetzen. Wie soll eine ESG-konforme Anlage mit diesem Zielkonflikt umgehen? Zweitens: Aus der Perspektive des Klimaschutzes ist die Elektrifizierung sehr gut geeignet, die Emissionen von Treibhausgasen zu reduzieren. Und zwar, wenn sie nur mit nichtemittierenden Primärenergieträgern funktioniert. Doch Wind-, Sonnen- und Wasserstrom gehen zulasten der Biodiversität. Wie soll sich ein Nachhaltigkeitsinvestment angesichts dieses Zielkonflikts verhalten?

Freilich sind beide in den Beispielen angeführten Zielkonflikte praktisch lösbar. In jedem einzelnen Fall wird man eine Abwägung vornehmen können. Doch genau diese praktische Einzelfall-Lösbarkeit zeigt auf, dass es keine generelle Formel für ESG oder Nachhaltigkeit geben kann. Die Einzelfall-Lösbarkeit ist nur möglich, wenn jeweils Werturteile gefällt werden. Was ist wichtiger, Armutsbekämpfung oder Umweltintegrität, Klimaschutz oder Biodiversität?

Wessen Werte werden umgesetzt?

Die Erkenntnisse aus diesen Beispielen haben weitreichende Konsequenzen: Wenn es keine generelle Formel fĂĽr ESG und Nachhaltigkeit gibt, dann entpuppt sich die Entwicklung von Methodologien als ein Kampf gegen WindmĂĽhlen. Wenn es zwingend Werturteile braucht, um ESG und Nachhaltigkeit umzusetzen, dann muss man sich fragen, wessen Werte umgesetzt werden.

Bei den meisten Anlagen sind mehrere Akteure involviert. Damit ist eine eindeutige Zuteilung des Werturteils gar nicht möglich. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Bereits die Diskussion über die umzusetzenden Werturteile wird kompliziert und konfliktiv sein. Damit führt die Berücksichtigung von ESG oder Nachhaltigkeit zum genauen Gegenteil dessen, was sie bewirken will: Sie führt zu mehr Friktionen, zu schlechterer Governance und eröffnet damit Arbitragepotenzial für alle Involvierten. ESG ist also eine Schwächung der Governance, und Nachhaltigkeit ist eine offene Tür für kurzfristige Optimierung.

Beides ist vermutlich der Grund für ihre steigende Beliebtheit unter den Finanzanbietenden. Denn dort, wo die Governance geschwächt wird und sich kurzfristige Ziele halbverborgen umsetzen lassen, gibt es Gewinn- und Bonuspotenzial.

Schon schwer genug

Was tun? Finanzanlagen müssen Rendite bringen, liquide bleiben und risikoadäquat sicher sein. Das zu erreichen, ist schon schwer genug. Diesen Prozess mit zusätzlichen Friktionen und Wertdebatten noch komplizierter zu machen, ist schädlich.

ESG, Nachhaltigkeit, Klimaverträglichkeit, Soziales und andere wunderbar klingende Schlagworte sind also vor allem eines: schädlich. Sie erschweren die Anlagetätigkeit und gefährden somit Rentabilität, Liquidität und Sicherheit. Sie sind damit genau das Gegenteil von dem, was sie zu sein vorgeben. Und wie bei Hedge-Fonds- und Immobilienblasen wird das Ausmass des Schadens erst im Nachhinein feststellbar.

Henrique Schneider,

Stv. Direktor sgv

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