Publiziert am: 02.09.2022

«Solidaritätsabkommen sind wichtig»

GASVERSORGUNG – «Die Gasversorgung in der Schweiz ist momentan stabil», sagt der Bündner Anwalt und FDP-Ständerat Martin Schmid. Er ist Präsident des Verbands der Schweizerischen Gasindustrie. In der Schweiz Gasspeicher zu bauen, sei technisch sehr anspruchsvoll und teuer. Wichtig sei, dass sich die Länder im Fall einer Gasmangellage gegenseitig unterstützten.

Schweizerische Gewerbezeitung: Wozu braucht die Schweiz Gas; welches sind die wichtigsten Verbraucher?

Martin Schmid: Gas wird heute in der Schweiz hauptsächlich zur Wärmeerzeugung in Haushalten und als Prozessenergie in der Industrie genutzt. Die grösste Verbrauchergruppe sind die Haushalte mit rund 42 Prozent des Endverbrauchs, gefolgt von der Industrie mit knapp 34 Prozent. Ausserdem kommt Gas im Dienstleistungsbereich und in geringerem Masse im Verkehr zum Einsatz. Über zwei Drittel der Bevölkerung wohnt in mit Gas erschlossenen Gemeinden.

Wie präsentiert sich aktuell die Versorgungslage im Hinblick auf den kommenden Winter 2022/23?

Die Gasversorgung in der Schweiz ist im Moment stabil. Das Risiko, dass es im kommenden Winter in Westeuropa zu einer Mangellage kommt, kann aber nicht ausgeschlossen werden. Mit einem vollständigen Lieferstopp der russischen Gaslieferungen, mit dem man jederzeit rechnen muss, erhöht sich die Gefahr, was sich auch auf die Versorgungslage in der Schweiz auswirkt. Die Situation hängt auch von den Temperaturen im kommenden Winter ab, und wie gut die europäischen Gasspeicher bis zum Winter gefüllt sind.

Wie funktioniert die Versorgung der Schweiz mit Gas; wem kommt welche Aufgabe zu?

Die Versorgung mit Gas erfolgt in der Schweiz durch rund hundert lokale und regionale Unternehmen. Häufig sind sie Teil der öffentlichen Verwaltung und bieten als Querverbundbetriebe der Gemeinden und Städte weitere Versorgungsleistungen an. Die lokalen Gasversorger werden von den Regionalgesellschaften beliefert, die auch die regionalen Transportnetze betreiben. Einzelne industrielle Grossabnehmer werden direkt von den Regionalgesellschaften bedient.

Die Zuständigkeit und Verantwortung für die Beschaffung von Erdgas liegt bei mehreren Beschaffungsorganisationen und Drittlieferanten, die auch mit Strom handeln. Eine wichtige Rolle beim Transport des Erdgases kommt der Netzbetreibergesellschaft Swissgas zu. Sie verfügt über ein eigenes Netz an Gasleitungen in der Gesamtlänge von 260 Kilometern sowie über Transportvereinbarungen mit ausländischen Gesellschaften für den Gastransport bis zur Schweizer Grenze.

Die Gasbranche koordiniert die Versorgung der Schweiz in einer möglichen Mangellage. Nach welchen Kriterien tut sie das?

Um auf den kommenden Winter vorbereitet zu sein, hat der Bundesrat die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen, dass die Gaswirtschaft die Beschaffung gemeinsam angehen kann. Das Konzept zur Stärkung der Gasversorgungssicherheit im Winter 2022/23 beinhaltet zwei Massnahmen: Die Einrichtung einer physischen Gasreserve in Gasspeichern der Nachbarländer soll 15 Prozent (rund 6 TWh) des jährlichen Gasverbrauchs der Schweiz von rund 35 TWh abdecken. Zudem werden Optionen für zusätzliche nicht-russische Gaslieferungen in der Höhe von 6 TWh (rund 20 Prozent des Schweizer Winterverbrauchs) beschafft werden, die bei Bedarf kurzfristig abgerufen werden können. Die Gaswirtschaft verfolgt klar das Ziel, bestehende Abhängigkeiten von russischem Gas zu reduzieren und mittelfristig unabhängig davon zu werden. Die Speicherlösung orientiert sich an Regeln der EU, um die Speicherbefüllung in Europa zu unterstützen.

Falls tatsächlich Gas eingespart werden muss: Welche Rolle kommt den KMU dabei zu?

Vorerst wollen wir alles tun, dass wir nicht in eine Mangellage kommen. Falls in der Schweiz dann trotzdem eine Mangellage eintreten sollte, die von der Gasbranche nicht mehr mit marktwirtschaftlichen Lösungen behoben werden kann, trifft die wirtschaftliche Landesversorgung des Bundes die notwendigen Bewirtschaftungsmassnahmen. In einem ersten Schritt würde der Bund alle Verbraucher, also auch KMU, mittels Sparappellen aufrufen, den Gasverbrauch zu reduzieren. Gleichzeitig kann der Bund den Firmen mit Zweistoffanlagen die Umstellung von Gas auf Heizöl vorschreiben.

Als weitere Massnahme kann der Bundesrat Einschränkungen für gewisse Anwendungen beschliessen, z. B. verbindliche Beschränkungen der Heiztemperatur in öffentlichen Gebäuden oder in Büros anordnen. Schliesslich kann der Bund bei einer anhaltenden Mangellage auch Kontingentierungen anordnen. Davon wären alle Anlagen betroffen, die nicht zu den sogenannten geschützten Verbrauchern zählen. Zu den geschützten Verbrauchern gehören Privathaushalte, Fernwärmeanlagen für Privathaushalte und grundlegende soziale Dienste. Zu letzteren zählen auch Spitäler, Energie- und Wasserversorgung sowie Blaulichtorganisationen.

Von den physischen Gasreserven sind laut dem Verband der Schweizerischen Gasindustrie, den Sie präsidieren, circa 60 Prozent gesichert. Ist es in Ihren Augen wichtiger, die Versorgung sicherzustellen oder die Unternehmen aufs Sparen von Gas einzuschwören?

Die Regionalgesellschaften haben – was erfreulich ist – die Zielsetzung beim Aufbau der Gasreserven in Gasspeichern inzwischen zu 100 Prozent erreicht, auch die Beschaffung von Optionen für zusätzliche nicht-russische Gaslieferungen ist erfolgt. Im Hinblick auf den kommenden Winter geht es aktuell in erster Linie darum, die Versorgung sicherzustellen. Damit wir unbeschadet durch den Winter kommen, ist es aber auch wichtig, Energie zu sparen respektive mit der vorhandenen Energie sehr haushälterisch umzugehen.

Die Schweiz beschafft das Gas hauptsächlich in Deutschland, Frankreich und Italien, verfügt aber über keine saisonalen Speicher. Wieso eigentlich nicht?

In der Schweiz hat es immer wieder Projekte für Gasspeicher gegeben. Aktuell verfolgt Gaznat in Oberwald im Kanton Wallis ein entsprechendes Projekt. Dabei soll festgestellt werden, ob hier unter den Alpen ein Gasreservoir gebaut werden kann. Vier Kavernen sollen es ermöglichen, rund 1500 Gigawattstunden zu lagern. Oberwald befindet sich einige hundert Meter weit von der Trasse der Gas-Pipeline Transitgas entfernt, die das Schweizer Erdgasnetz mit Deutschland, Frankreich und Italien verbindet. In der Schweiz Gasspeicher zu bauen, ist technisch sehr anspruchsvoll und auch teuer.

Erwarten Sie, dass die Schweiz im Fall einer Mangellage beim Gas auf die Solidarität ihrer Nachbarn zählen kann?

Es ist wichtig, dass sichergestellt wird, dass sich die Länder bei einer Gasmangellage so weit wie möglich gegenseitig unterstützen. Der Bund verhandelt zu diesem Zweck über Solidaritätsabkommen mit den Nachbarstaaten. Das unterstützen wir mit Nachdruck. Ob tatsächlich – und unter welchen Bedingungen – konkrete Resultate erzielt werden, ist im Moment noch offen.

Welches sind Ihre Erwartungen an die Politik – und insbesondere ans Departement Sommaruga –, was die Sicherstellung der Gasversorgung betrifft?

Die Solidaritätsabkommen mit unseren Nachbarstaaten stehen da an erster Stelle, insbesondere mit Deutschland und Italien. Nur so kann sichergestellt werden, dass das Gas, das die Branche im Auftrag des Bundesrats im Ausland beschafft hat, auch in die Schweiz kommt, wenn eine Mangellage eintritt.

Welche Rolle kommt der Wettbewerbskommission in der heutigen Lage zu? Wird sie eine koordinierte Beschaffung unter den gegebenen Umständen ermöglichen?

Der Bundesrat hat zuerst die rechtlichen Voraussetzungen schaffen müssen, dass die Gaswirtschaft die Beschaffung für den kommenden Winter gemeinsam angehen kann. Erst dies hat der Gaswirtschaft eine koordinierte Beschaffung ermöglicht. Bei der Erarbeitung des Konzepts war das Sekretariat der Wettbewerbskommission immer dabei und hat sich eingebracht, damit es diskriminierungsfrei ist. Das war für alle Beteiligten anspruchsvoll und zeitaufwendig.

Die Gasbranche spricht immer wieder von den Chancen erneuerbarer, dekarbonisierter Gase. Wann ist realistischerweise damit zu rechnen, dass z. B. Wasserstoff einen wichtigen Beitrag zur Energieversorgung der Schweiz leisten kann?

Es ist wichtig, dass Wasserstoff in der Schweiz viel stärker gefördert wird. Das ermöglicht überhaupt erst die Dekarbonisierung und auch die Diversifikation von Herkunftsorten. Die EU hat das Potenzial von Wasserstoff erkannt und setzt eine entsprechende Strategie um. Deutschland, Grossbritannien, Norwegen oder Dänemark sehen im Wasserstoff ein grosses Potenzial für die künftige Energieversorgung und investieren Milliarden in die Förderung von Wasserstofftechnologien.

Um die Produktion und Nutzung erneuerbarer Gase wie grüner Wasserstoff, Biogas und synthetisches Methan in der Schweiz ausbauen zu können, braucht es grundsätzlich bessere Rahmenbedingungen. Dabei geht es primär darum, erneuerbare Gase durch Investitionsbeiträge oder Einspeisebeiträge zu fördern. In der Schweiz stehen wir erst am Anfang dieser Entwicklung.

Interview: Gerhard Enggist

www.gazenergie.ch

Branchenlösungen finden

Verbote tragen nicht zur Versorgungssicherheit bei

Sollte eine Energiemangellagetatsächlich eintreffen, dann solle der Bundesrat mit der Wirtschaft Ziele vereinbaren, statt ihr Verbote aufzuerlegen. Dies fordert der Schweizerische Gewerbeverband sgv in einem Brief an Wirtschaftsminister Guy Parmelin. «Für das Funktionieren der Schweiz als Land und ihrer Gesellschaft ist es absolut unerlässlich, dass die Wirtschaft in dem vom sgv verstandenen breiten Sinne zuverlässig mit Energie, vor allem elektrischem Strom, versorgt wird», hält sgv-Präsident, Unternehmer und Nationalrat Fabio Regazzi fest. Der sgv fordert den Bundesrat daher auf, alles Mögliche zu unternehmen, um diese Versorgungssicherheit zu garantieren. Insbesondere im Falle einer Energiemangellage sei es «zentral, dass Wertschöpfungsketten weiterhin funktionieren können». Sollte es zu Engpässen kommen, müsse frühzeitig eine Planung des Umgangs damit erfolgen.

Aus ordnungspolitischer Sicht seien Verbote entschieden abzulehnen, da sie nicht geeignet seien, einen Beitrag zur Versorgungssicherheit zu leisten.

Branchenlösungen finden

Die im sgv organisierten Branchen seien in der Lage, mit selbst entwickelten Spar- und Effizienzmassnahmen den Stromeinsatz zu reduzieren, ohne dass Verbote des Bundes notwendig seien. Die Wertschöpfungskette in der Touristik sei beispielsweise mit ihren «bottom up»-Plänen in der Lage, den Stromverbrauch um etwa zehn Prozent zu reduzieren.

Die Tourismusbranche – unter vielen anderen auch Schweiz Tourismus, GastroSuisse und HotellerieSuisse – sind ihrerseits direkt ans WBF gelangt und haben dabei aufgezeigt, wie alle Branchenverbände des Tourismussektors gemeinsam und intensiv an wirkungsvollen Einsparungsmassnahmen auf den verschiedenen Eskalationsstufen des Bundes arbeiten. «Für die Berggebiete hat insbesondere der Wintertourismus mit einer Wertschöpfung von sechs Milliarden Franken eine zentrale volkswirtschaftliche Bedeutung», halten die Touristiker fest. «Für eine Vielzahl der Bevölkerung bildet der Tourismus die Existenzgrundlage in diesen Regionen.»

www.sgv-usam.ch

RESERVEKRAFTWERKE

Not macht flexibel

Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 17. August beschlossen, dass das UVEK und das WBF Vertragsverhandlungen zum Einsatz von Reservekraftwerken führen können. Diese sollen ergänzend zur Wasserkraftreserve bereits im kommenden Spätwinter zur Bewältigung von ausserordentlichen Knappheits-situationen bereitstehen. Es geht um eine Leistung von insgesamt über 300 MW. Die entspricht rund 80 Prozent des abgeschalteten KKW Mühleberg. Der Einsatz dieser Reservekraftwerke wird in einer Verordnung geregelt, die spätestens Mitte Februar 2023 in Kraft treten soll. In Vorbereitung sind auch Verhandlungen zum Einsatz bestehender Notstromaggregate als Reservekraftwerke. Für den Betrieb der Reservekraftwerke und allenfalls Notstromaggregate sollen die Grenzwerte der Luftreinhalteverordnung und allenfalls der Lärmschutzverordnung zwischen Februar und Mai 2023 temporär aufgehoben werden.

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