Publiziert am: 06.11.2020

«Wir geben KMU eine Stimme»

FABIO REGAZZI – «Die Rezepte, die unser Land erfolgreich gemacht haben, können nicht die falschen ­gewesen sein», sagt der neue Präsident des Schweizerischen Gewerbe­verbands. Mit dem Unternehmer und Juristen präsidiert erstmals ein Tessiner den grössten Dachverband der Schweizer Wirtschaft.

Schweizerische Gewerbezeitung: Sie sind der erste Tessiner an der Spitze des Schweizerischen Gewerbeverbands. Was bedeutet Ihre Wahl fĂĽr Ihren Kanton?

Fabio Regazzi: Selbstverständlich verstehe ich das als grosse Ehre. Nicht nur für mich, sondern auch für meinen Kanton. Auf der Südseite des Gotthards ist der Keil zwischen Wirtschaft und Gesellschaft, den unsere Gegner hineingetrieben haben, besonders spürbar. Ähnliche Entwicklungen nehme ich auch in der Deutschschweiz vermehrt wahr. Ich bin mit dem Versprechen angetreten, dass ich den Dialog mit den verschiedenen Kräften suchen will. Wenn das nun ein Tessiner an der Spitze des sgv tun darf, kann das auch Signalwirkung in meinem Heimatkanton haben. Auch in der Südschweiz wäre es eine Chance, den Dialog zwischen Wirtschaft und Gesellschaft zu verstärken. Mir scheint das enorm wichtig.

Mit welchen Ambitionen treten Sie Ihr neues Amt an?

Aus meiner Sicht muss es gelingen, dass die Anliegen der Wirtschaft und der KMU wieder vermehrt etwas werden, worum sich Herr und Frau Schweizer auch sorgen. Ich möchte wieder «back to the roots»: Die Rezepte, die unser Land erfolgreich gemacht haben, können nicht die falschen gewesen sein. Es liegt aber an uns, diese wieder besser zu kommunizieren und einzubringen. Hier müssen wir uns an die neue Zeit anpassen. Ein zentrales Anliegen ist mir, dass wir als Verband, alle zusammen, die richtigen Prioritäten setzen. Und sie dann so effektiv wie möglich – vermehrt auch mit Partnern und Verbündeten – in den politischen Prozess einbringen. Besonders wichtig ist mir hierbei die Zusammenarbeit mit den anderen Wirtschaftsverbänden, aber auch der Dialog mit den Sozialpartnern.

Sie sind Unternehmer: Welche Bedeutung hat der sgv heute fĂĽr die Schweizer KMU?

Die Schweiz ist aktuell mit der Covid-­19-Pandemie und damit mit einer ihrer grössten Herausforderungen konfrontiert. Lassen Sie es mich so sagen: Wenn der sgv schon in normalen Zeiten eine eminent wichtige Rolle spielen muss, so muss er es in Krisenzeiten mit noch grösserer Vehemenz tun. Wichtig erscheint mir, dass der sgv alles daran setzt, erst die Bedürfnisse der KMU möglichst genau aufzunehmen, um dann glaubwürdig aufzutreten. Wir geben unzähligen Klein- und Mittelunternehmern eine Stimme. Wenn wir das effektiv tun, können sie alle über den sgv auftreten und sich über dieses Sprachrohr Gehör verschaffen. Ich erhoffe mir, dass der sgv als kompetenter, smarter, dialogbereiter und effizienter Verband noch weiter an Wichtigkeit gewinnt.

Ihr Vorgänger Jean-François Rime hat den sgv während acht Jahren präsidiert. In welchem Zustand übernehmen Sie den Verband?

Ich übernehme einen Verband, der über grosses Durchsetzungsvermögen in den Medien verfügt und der sich für die KMU auch – oder gerade – in diesen Krisenzeiten stark engagiert hat. Aktuell etwa, indem der sgv sich gegen einen erneuten und verheerenden Lockdown einsetzt. Hinzu kommt, dass ich eine finanziell gesunde Organisation übernehmen darf. Selbstverständlich gehört zu einem Führungswechsel auch, dass man neue Akzente setzen muss. Diese schliesse ich nicht aus, aber vorerst möchte ich noch einen genaueren Einblick gewinnen.

Mit dem Übergang von Rime zu Ihnen wechselt auch das sgv-Präsidium von der SVP zur CVP. Wie wird dieser Wechsel gegen aussen spürbar sein?

Die Anliegen von Firmen, wenn sie den Alltag bestreiten und sich aktuellen Herausforderungen stellen wollen, haben keine Parteifarbe. Die Lösungen und Massnahmen des Verbandes sollen genau dort ansetzen, wo die Zehntausenden von KMU auf Probleme stossen. Darum muss die Politik unser Mittel sein, um bessere Rahmenbedingungen zu erreichen, und nicht das Ziel.

Was für mich aber zentral ist: Der sgv-Präsident ist nicht Alleinherrscher. Der Verband verfügt über Strukturen und Gremien, vom Vorstand bis zur Gewerbekammer, die uns als Pulsmesser und Echokammer dienen sollen. Der stärkere Einbezug unserer Gremien ist mir ein wichtiges Anliegen.

Kommen wir zu wichtigen Weichenstellungen fĂĽr die Zukunft: Wie soll es mit der Altersvorsorge weitergehen?

Das ist sicher eine der grössten Herausforderungen für unser Land, gleichzeitig auch noch eine der dringendsten. Mit dem Kompromiss der Sozialpartner liegt ein erster Vorschlag auf dem Tisch. Aus meiner Sicht braucht es noch Verbesserungen. Es darf zum Beispiel nicht sein, dass der Charakter der zweiten Säule mit einer Umlagefinanzierung verwässert wird. Weiter ist mir wichtig, dass man die Abgaben für die Mitarbeiter und Unternehmen so tief wie nur möglich hält. In diesem Vorschlag finden sich auch positive Elemente. Viel Gutes abgewinnen kann ich der Idee, für eine erhöhte Wettbewerbsfähigkeit von älteren Arbeitnehmern auf dem Arbeitsmarkt zu sorgen. Das sollte man unbedingt beibehalten.

Wie soll die Schweiz ihr Verhältnis mit der EU gestalten? Was halten Sie vom Rahmenabkommen in der heute vorliegenden Form?

Es ist aktuell ungenügend und nicht mehrheitsfähig: Der EuGH darf nicht diese dominante Rolle bei Rechtsstreitigkeiten erhalten, die vorgesehen ist. Dazu müssen die EU-Bürgerschaftsrichtlinien explizit ausgeschlossen und das Thema des Lohnschutzes in der Schweiz geklärt werden. Ich vertraue dem Bundesrat, dass er nicht nur die Sorgen im Volk ernst nimmt, die aus der Vernehmlassung klar hervorgegangen sind. Ebenso traue ich der Regierung zu, dass sie mit der EU eine Lösung findet.

Welche weiteren Anliegen sind zentral fĂĽr eine KMU-orientierte Schweizer Wirtschaftspolitik?

Gerade die Krise hat uns gezeigt, dass eine solche Liste schnell ändern kann. Eines meiner ersten Projekte wird darum sein, zusammen mit der Basis, diese Liste der zentralen Anliegen zu erneuern. Es geht darum, die Bedürfnisse nicht nur genau zu eruieren, sondern sie dann auch richtig zu priorisieren. Zwei Bereiche, die mir Dauerthemen erscheinen, kann ich schon nennen: die ausufernde Bürokratie oder den wachsenden Bedarf an ausgebildeten Fachkräften.

Mit der Konzernverantwortungsinitiative (KVI) und der Abstimmung über Kriegsmaterialfinanzierung kommen am 29. November – einen Monat nach Ihrer Wahl zum sgv-Präsidenten – zwei wichtige Vorlagen an die Urne. Welche ist aus Sicht der KMU wichtiger?

Beide sind für uns Gewerbler von zentraler Bedeutung. Die KVI ist eigentlich ein Etikettenschwindel: Aussen heisst es Konzern-Verantwortungs-Initiative, darin finden wir aber Regelungen, die uns KMU mindestens so hart treffen. Vielleicht sogar noch härter, weil Klein- und Mittelbetriebe kaum Möglichkeiten haben, die geforderten absurden Bürokratieforderungen bei der Überwachung ihrer gesamten Lieferkette zu bewältigen. Ich bin deshalb froh, dass unsere Gewerbekammer einstimmig die Nein-Parole zu dieser gefährlichen Initiative beschlossen hat.

Auch die GSoA-Initiative betrifft uns alle: Die Folge einer Annahme wäre, dass verschiedene KMU direkt ihre Geldquellen verlieren. Indirekt führt eine Annahme dazu, dass AHV und Pensionskassen in Bedrängnis kommen, weil sie ihre Gelder anders anlegen müssen. Am Schluss läuft es – wie auch bei der KVI – auf eine einseitige Benachteiligung des schweizerischen Wirtschaftsstandorts heraus.

Die Covid-Krise hat die Bedeutung der Digitalisierung nochmals unterstrichen. Was kann der sgv hier zugunsten der KMU tun?

Hier sollten wir vor allem gute Rahmenbedingungen für den Digitalisierungsprozess fordern, insbesondere bei der Aus- und Weiterbildung. Aus meiner Sicht soll der Staat diesen Prozess aber möglichst zurückhaltend begleiten. Die Digitalisierung erfolgt dort am raschesten und effizientesten, wo der Markt auf die Bedürfnisse von Unternehmen und Kunden frei reagieren kann. Deshalb halte ich nichts von staatlichen Förderprogrammen und Fördergeldern, die den Strukturwandel beeinflussen und somit verzerren.

Interview: Gerhard Enggist

www.sgv-usam.ch

ZUR PERSON

Fabio Regazzi wurde am Gewerbekongress vom 28. Oktober 2020 zum neuen Präsidenten des Schweizerischen Gewerbeverbands sgv gewählt. Er folgt auf Jean-François Rime, der den Verband seit 2012 geführt hatte.

Der 58-jährige Tessiner CVP-Nationalrat, Unternehmer und Jurist wurde 2011 in die Grosse Kammer gewählt. Er vertritt die heutige Mitte-Fraktion in der nationalrätlichen Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK-N). Der in Gordola wohnhafte, vielseitige Unternehmer leitet die Regazzi-Gruppe seit dem Jahr 2000.

www.regazzi.ch

www.fabioregazzi.ch

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