Publiziert am: 19.06.2020

Den KMU eine Stimme geben

GROBE WETTBEWERBSVERZERRUNG – Eine aus Sicht der KMU höchst verstörende Episode der bisherigen Covid-19-Krise ist der behördliche Umgang mit dem Detailhandel – und die krasse Bevorzugung der Grossverteiler. Der sgv hat sich mit viel Einsatz und Erfolg für die Interessen der KMU eingesetzt.

Man hat das Unheil kommen sehen: Am 28. Februar stufte der Bundesrat die Situation in der Schweiz aufgrund des Coronavirus als «besondere Lage» ein. Grossveranstaltungen mit mehr als 1000 Personen wurden untersagt. Am 13. März werden die Schulen geschlossen. Veranstaltungen mit mehr als 100 Personen sind verboten. In Restaurants, Bars und Discos dürfen sich noch maximal 50 Menschen treffen. Zwei Tage später bricht die Bundesversammlung die laufende Frühjahrssession ab, bald schon werden die für den Mai geplanten Abstimmungen verschoben. Bundesbern treibt das Land mit grossen Schritten Richtung Totalstillstand.

Am 16. März dann ist es so weit: Der Bundesrat erklärt die ausserordentliche Lage. Was später Lockdown genannt wird, ist Tatsache: Innerhalb weniger Stunden und bis am 19. April müssen alle Läden, Restaurants und Bars, alle Unterhaltungs- und Freizeitbetriebe schliessen. Ausgenommen sind unter anderem Lebensmittelläden. Grenzkontrollen, der Einsatz von bis zu 8000 Angehörigen der Armee und die in Endlosschlaufe abgespielte Aufforderung im Staatsradio – «Bleiben Sie zu Hause!» – vervollständigen das Bild. Die Krise ist total.

Grossverteiler profitieren

Schweizerinnen und Schweizer halten sich an die Vorgaben des Bundes und bleiben bei schönstem Frühlingswetter daheim. Wer kann, arbeitet im Homeoffice, die Strassen sind leer. Auch der Detailhandel – genauer: die KMU-geführten Geschäfte in den Städten und Dörfern – hält sich an die Vorschriften und verkauft wie geheissen nur, was als «lebensnotwendig» gilt.

Anders die Grossverteiler: Coop, Migros, Landi & Co. stellen sich taub und verticken weiterhin ungerührt, was den Kleinen verboten ist. Von Gewürzpflanzen über Gartenmöbel bis hin zu Velos: Die Grossen profitieren vom Frühlingsgeschäft; KMU haben das Nachsehen.

«Die Grossen profitieren vom Frühlingsgeschäft; KMU haben das Nachsehen.»

Das Entsetzen ist gross, die Fassungslosigkeit grenzenlos: Hunderte von Zuschriften aus allen Landesteilen fluten die Mailboxen beim Schweizerischen Gewerbeverband sgv. Verzweifelte Inhaber kleinerer Geschäfte rufen um Hilfe: Können die Grossverteiler ein breiteres Sortiment verkaufen, so muss dies auch dem Detailhandel möglich sein – oder aber es wird endlich durchgegriffen und die Vorschriften von allen eingehalten. Gleichbehandlung: sgv-Direktor Hans-Ulrich Bigler, bei den Medien ab sofort Dauergast, unterstützt die Forderung der KMU auf allen Kanälen; zahlreiche kantonale Gewerbeverbände schliessen sich dem Protest an. «Da muss man ohne Wenn und Aber durchgreifen», fordert Bigler schon am 18. März im «Blick». «Es kann nicht sein, dass man bei den KMU die Regulierungen brutal durchsetzt und die Grossen einfach laufen lässt. Das ist unsolidarisch!»

Der Streit mit den Grossverteilern wird sich hinziehen: Bis die geforderte Gleichbehandlung endlich Tatsache wird, wird es noch Wochen dauern. Wochen, während derer den KMU im Detailhandel fast das gesamte Frühlingsgeschäft und damit Hunderte von Millionen entgehen – und die Grossen im Wesentlichen weitermachen, als ob nichts gewesen wäre. Sie verkaufen, während Gärtnereien und Gartencenter geschlossen bleiben, weiterhin Blumen und Pflanzen. «Baumärkte halten die Fahrrad-, Roller- und Zweiradzubehör-Abteilungen weiterhin offen», wird dem sgv berichtet. «Insbesondere bei Coop Bau+Hobby, Jumbo und OBI. Meldungen aus allen Landesteilen bestätigen, dass überhaupt keine Sortimentsbeschränkungen durchgesetzt werden.»

Kompetenz und Inkompetenz

Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch, als Staatssekretärin für Wirtschaft theoretisch zuständig für eine rasche Remedur, hat derweil anderes im Sinn. Die von ihr geleitete Kommission für Wirtschaftspolitik kümmert sich lieber um aussenwirtschaftliche Marginalien, etwa um den Rücktritt des Generalsekretärs der Welthandelsorganisation WTO – als ob dies inmitten einer so gravierenden Krise für die betroffenen KMU irgendeine Bedeutung hätte.

«Anders als in der Seco-Direktion für Arbeit, wo unter Führung von Boris Zürcher exzellente Arbeit geleistet worden ist und immer noch wird», sagt sgv-Direktor Bigler, «scheint im Umfeld von Frau Ineichen-Fleisch keinerlei entsprechendes Know-how und auch kein Verständnis für die Probleme der KMU vorhanden zu sein.» Nur mit diesem «Totalausfall» liessen sich die unausgegorenen Entscheide des Bundesrats rund um die Detailhandelsproblematik erklären.

In der Folge verlangen sgv-Präsident Jean-François Rime und Direktor Bigler mit Brief vom 9. April bei Bundesrat Parmelin die Aufhebung der obgenannten Kommission «mangels Mehrwert». Die Antwort aus dem WBF – sie erreicht den sgv am 4. Mai – ist dann dermassen schönfärberisch, dass der Eindruck entsteht, die in die Kritik geratene Seco-Chefin habe sich der Sache gleich selbst angenommen …

Ein weiteres Problem wird während der heissen Phase der Corona-Krise ebenfalls evident: Der fehlende Einbezug des sgv – er vertritt mit 99 Prozent der Unternehmen im Land das Gros der Schweizer Wirtschaft – ist im Krisenstab des federführenden Departements des Innern von Alain Berset nicht vertreten. «Ein Fehler, der mit Blick auf kommende Krisen möglichst rasch behoben werden muss», verlangt der sgv-Direktor. Dies umso mehr, als Economiesuisse unter Präsident Heinz Karrer ihren Plan zum Wiederhochfahren der Wirtschaft erst nach dem entsprechenden Bundesratsentscheid vom 15. März geliefert und der Arbeitgeberverband – dessen Präsident Valentin Vogt die Probleme des Detailhandels als «Nebensache» bezeichnet und damit im Umfeld des sgv höchst konsternierte, um nicht zu sagen gehässige Reaktionen auslöst – jenen des SAV bis heute nicht präsentiert hat.

«Klarer Fehlentscheid»

Vor, besonders aber auch hinter den Kulissen setzt sich der Gewerbeverband Tag und Nacht – auch über die Feiertage von Ostern und Pfingsten – für KMU-verträgliche Lösungen ein. In der «Rundschau» des Schweizer Fernsehens lanciert er bereits am 1. April ein erstes Mal sein Konzept «Smart Restart» zur Lockerung in der Wirtschaft. Noch am Abend des Gründonnerstags, 9. April, offeriert der Dachverband der Schweizer KMU dem Seco, über die Ostertage sgv-interne Manpower zur Verfügung zu stellen – vergeblich. Die Beamtenschar verfügt zu diesem Zeitpunkt noch über keine Vorstellungen. Ist dies der Grund, dass man lieber unter seinesgleichen bleibt?

Das Resultat: die chaotisch kommunizierte allmähliche Wiedereröffnung im Detailhandel ab dem 27. April. Der von Bundesrat Berset im Nachhinein als «verwirrend» bezeichnete bundesrätliche Entscheid – wer durfte nun genau was tun und wer nicht? – wird von sgv-Direktor Bigler als das bezeichnet, was er war: «Ein klarer Fehlentscheid.»

In enger Abstimmung mit den kantonalen Gewerbeverbänden und den Branchenverbänden (vgl. «Hinter den Kulissen», Seite 5) bleibt der sgv am Ball und erhöht den Druck auf das Seco und das Bundesamt für Gesundheit (BAG), mit Lockerungen – auch ausserhalb des Detailhandels – endlich vorwärtszumachen. Dies letztendlich mit Erfolg: Seit dem 11. Mai sind, unter Einhaltung der vom sgv aktiv mitgestalteten Schutzkonzepte, Geschäfte, Restaurants und Bars wieder geöffnet.

Drohung mit Klage wirkt

Das Auslösen einer Klage, wie vom sgv am 24. April den Grossverteilern wegen ihrer andauernden Verletzung der Sortimentsbeschränkungen angedroht, ist letztlich nicht mehr notwendig: In Genf hat ein entsprechendes Rechtsbegehren inzwischen den nötigen Druck aufgebaut und – zusammen mit der Klagedrohung des sgv – die Grossverteiler zum Einlenken bewegt.

Was bleibt, ist die Erinnerung an ein höchst unschönes Kapitel Schweizer Wirtschaftsgeschichte. Ein Kapitel, das sich so nicht wiederholen darf in einem Land, in dem KMU rund 70 Prozent aller Arbeitsplätze anbieten und für 60 Prozent der Wertschöpfung zuständig sind.

Gerhard Enggist

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