Publiziert am: 19.06.2020

«Laut, leise: Beides muss sein»

HANS-ULRICH BIGLER – Der Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbands sgv und sein Team haben – mit viel Arbeit hinter den Kulissen, aber auch durch eine intensive Öffentlich­keits­arbeit und in Kooperation mit Alliierten auf allen Ebenen – in der Corona-Krise den KMU eine gewichtige Stimme verliehen.

Schweizerische Gewerbezeitung: Was ist rückblickend Ihre stärkste Erinnerung, wenn Sie an den bisherigen Verlauf der Corona-Krise denken?

Hans-Ulrich Bigler: Das Wochenende vor dem Lockdown vom 16. März. Am Sonntag realisierte ich, dass da eine ganz ernste und heftige Sache auf die Schweiz und ihre KMU zukommen würde. Deshalb bereitete ich ein Schreiben an Bundesrat Guy Parmelin vor, in dem wir eine Ausweitung der Kurzarbeit und eine Unterstützung bei der Liquidität forderten. Diesen Brief diskutierten wir noch am gleichen Sonntagabend intern intensiv und wurden uns dabei klar: Wir sind ab sofort im Krisenmodus. Das bedeutete auch, dass wir zwecks Krisenbewältigung nicht stur an unseren Grundprinzipien festhalten konnten, sondern umschalten mussten von Ordnungspolitik auf Realpolitik.

Schon in der Vorwoche haben Sie sich öffentlich als «halben Seelsorger» bezeichnet …

Schon vor dem Lockdown riefen uns Firmen direkt an und schrieben massenhaft E-Mails, danach erst recht. Manche Anrufer waren tief geschockt und hatten absolut keine Ahnung, wie sie jetzt vorgehen sollten. Niemand wusste, wie lange diese sehr schwierige Lage andauern wĂĽrde: Zwei Monate? Ein halbes Jahr? WĂĽrde eine totale Ausgangssperre folgen? Niemand konnte Genaueres sagen.

Eine Woche lang, bevor der Bundesrat schliesslich mit der Nothilfe einen Ausweg aufgezeichnet hat, war für viele Unternehmer überhaupt keine Perspektive auszumachen. In dieser Situation war es wichtig, dass ihnen überhaupt jemand zuhörte. Auch wenn noch keiner genau wusste, was jetzt zu tun war.

Gab es besonders krasse Reaktionen?

Die folgten erst im Zusammenhang mit der Wiedereröffnung, namentlich rund um die Sortimentsbeschränkungen im Detailhandel. Da war die Fassungslosigkeit schier unerträglich – und die Widersprüche kaum zu fassen, geschweige denn zu erklären.

Zu Beginn der Krise wussten die KMU-Chefinnen und -Chefs nicht mehr weiter; sie hatten aber Verständnis für die Massnahmen der Regierung. Während der verschie­denen Lockerungsschritte jedoch liess sich der Bundesrat zu einem Mikromanagement hinreissen, das bis heute andauert und schwer nachvollziehbar ist. Die dadurch ausgelöste Fassungslosigkeit, das totale Unverständnis waren fast noch krasser als die verzweifelten Reaktionen direkt nach dem Lockdown. Sassen zu Beginn noch alle im gleichen Boot, so begann sich nun eine Zwei-Klassen-Gesellschaft zu entwickeln.

Es folgte das intensive Wochenende vom 21./22. März, an dem die Modalitäten für die Hilfskredite ausgearbeitet wurden. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Wir standen schon vor dem Wochenende im Austausch mit dem Finanzdepartement, um nach Lösungen zu suchen. Dabei gelang es uns, wichtige Impulse zu setzen; z. B. zu verhindern, dass die Kredite an die Gewinne der beiden Vorjahre geknüpft würden. Firmen, die – etwa mit Blick auf die Steuern oder durch Investitionen – keine Gewinne geschrieben hatten, waren genauso auf Kredite angewiesen. Gewinne an sich konnten kein Kriterium sein, ob jemand Hilfe bekommen würde oder nicht.

Entscheidenden Einfluss hatte der sgv auch bei den Konditionen. Ursprünglich waren für die Kredite 0,5 bis 1 Prozent Zins vorgesehen, was wir absolut nicht akzeptieren konnten. Am Ende einigte man sich auf Null-Zins für Kredite bis zu einer halben Million und 0,5 Prozent für höhere Beträge.

Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit mit dem Departement fĂĽr Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF)?

Dessen Chef, Bundesrat Parmelin, reagierte rasch und ermöglichte einen direkten Zugang für die Wirtschaft in sein Departement. Dies mittels je einer Arbeitsgruppe für Fragen des Arbeitsmarkts und für wirtschaftspolitische Fragen. Betreffend Arbeitsmarkt gabs tägliche Telefonkonferenzen mit Boris Zürcher; in der Wirtschaftspolitik waren alle zwei Wochen Treffen mit Staatssekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch vorgesehen. Entsprechend mussten wir unsere Anliegen über Ersteren einbringen, um in nützlicher Frist Antworten zu bekommen. Das Thema der Sortimentsbeschränkungen etwa begannen wir sehr früh einzuspeisen, mussten dann aber lange auf Antworten warten. Erst als wir insistierten und via Volkswirtschaftsdirektorenkonferenz den nötigen Druck aufbauen konnten, reagierte die Staatssekretärin endlich. Vorher gabs bloss nette Mails und nichtssagende Briefe.

Eine der Schwächen, welche die Krise ans Tageslicht gebracht hat, ist die Frage, wie die Einhaltung der Umsetzung von Verordnungen kontrolliert wird. Man setzte Regulierungen, kümmerte sich aber nicht um deren Umsetzung. Das haben nicht zuletzt die Grossdemonstrationen von Mitte Juni deutlich aufgezeigt. Es werden Bestimmungen erlassen, ohne zu wissen, wie diese umgesetzt werden sollen. Confiseure dürfen in ihrem Geschäft nur wenige Personen gleichzeitig empfangen, Restaurants müssen Abstandsregeln folgen, während draussen Tausende unbehelligt demonstrieren – dafür hat niemand Verständnis.

Intern hat der sgv rasch auf die neuen Umstände reagiert …

Es war schnell klar, dass wir uns ­koordinieren mussten. Dies funk­tionierte denn auch sehr rasch und gut. Und es war entscheidend für den Erfolg, den wir – Vorstand, kantonale Gewerbeverbände, Branchenverbände und die Geschäftsstelle an der Schwarztorstrasse – gemeinsam erreicht haben. Durch den regelmässigen und intensiven Austausch und den internen Abgleich konnten wir schon früh ein sehr zuverläs­siges Bild der Lage zeichnen und rasch auf die jeweils nächste Phase in der Krisenbewältigung fokussieren. Durch diese Kooperation gewannen wir an Schlagkraft und ­hatten klare konzeptionelle Vorstellungen für den Ausstieg aus dem Lockdown. Durch eine rasche, zielgerichtete und lagegerechte Vorbereitung gelang es uns schliesslich, den «Smart Restart» so zu lancieren, dass er auch vom Parlament übernommen wurde.

Geärgert haben Sie sich über die Rolle der Gewerkschaft Unia …

… weil diese sich vor allem daran orientiert hat, wie sie ihre eigenen Anliegen vorantreiben konnte. Sie hat angemessene Lösungen, etwa die Nacht- und Wochenendarbeit in Wäschereien zugunsten der Spitäler, verhindert, indem über die ordentlichen Zuschläge hinaus weitere Lohnzahlungen verlangt wurden. Dies mit dem Resultat, dass die Gesuche betriebsweise an die Kantone gingen und die Sozialpartner aus dem Spiel waren. Man musste sich als Beobachter fragen, ob die Unia überhaupt begriffen hatte, was hier abging, und ob sie an Lösungen überhaupt interessiert war. Das schien mir nicht der Fall zu sein. Vielmehr benahm sie sich als Krisengewinnler – ein unwürdiges Spiel.

Was sonst hat Sie während der Krise geärgert?

Die Arroganz der Grossverteiler, die uns alle für dumm verkaufen wollten, indem sie sich über jegliche Sortimentsbeschränkungen hinwegsetzten und vor laufender Kamera so taten, als gäbe es keine Digitalisierung … Es wäre ihnen jederzeit möglich gewesen, beim Selfscanning oder den Verkaufskassen die nötigen Hürden einzubauen, davon bin ich überzeugt.

Erschreckt und nachdenklich gemacht hat mich auch folgendes Erlebnis: Am Tag nach unserer Drohung, die Grossverteiler einzuklagen, ging auf der Geschäftsstelle ein Brief mit einer «weissen Substanz» und der Drohung ein, jemand werde bald bei uns «aufräumen» kommen. Unsere Büros waren wegen eines notwendigen Polizeieinsatzes stundenlang abgesperrt. Auch wenn sich das Ganze als leere Drohung herausgestellt hat: Diesen Tag werden wir alle nicht vergessen.

Was haben Sie in der bisherigen Krise gelernt?

Es hat sich bestätigt, was der Gewerbeverband seit Jahren sagt: Wo der Staat eingreift, kommts zu Wettbewerbsverzerrungen. Zu Beginn liess sich dies kaum vermeiden; beim Wiederrauffahren aber hat sich der Staat teilweise im Mikromanagement verzettelt. Deshalb ist klar: Für eine nächste Krise muss der sgv als grösster Dachverband der Schweizer Wirtschaft im Krisenstab des Innendepartements direkt vertreten sein, um die Interessen der KMU realitätsnah einbringen zu können. Lange wurde die Krise ausschliesslich unter dem Aspekt der Gesundheits-, nicht aber der Wirtschaftsprobleme bearbeitet. Dabei bilden Gesundheit und Wirtschaft keine Gegensätze, im Gegenteil: Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Fallen Abertausende von Stellen weg, ist auch die Gesundheit sehr vieler Menschen betroffen – diesem Aspekt muss verstärkt Rechnung getragen werden. Zudem muss im Epidemiengesetz sichergestellt werden, dass die Gewaltenteilung zwischen Bundesrat und Parlament auch im Krisenfall besser funktioniert. Vor allem nach dem Lockdown, beim Hinauffahren der Wirtschaft, fehlte die ausgleichende Kraft. Das darf sich nicht wiederholen.

Sie hatten in den vergangenen Monaten eine enorme Medienpräsenz. Gleichzeitig haben Sie «hinter den Kulissen» viel erreicht. Was war Ihnen wichtiger?

Es braucht beides. Die letzten Monate waren ein Paradebeispiel dafür, wie die Arbeit beim Gewerbeverband läuft. Hinter den Kulissen wird sehr viel Arbeit geleistet – und wann immer ein Impuls gesetzt werden muss, tun wir dies in der Öffentlichkeit. Nur so konnten wir den realen Sorgen unserer KMU eine Stimme verleihen, die auch gehört wurde. Bereits zu Beginn haben wir die Erweiterung der Kurzarbeitszeit und die Liquiditätshilfe ins Spiel gebracht. Und erst nach unserer Intervention wurde das unwürdige Hüst und Hott rund um die Sortimentsbeschränkungen endlich beendet – vorher wurden all die Ungerechtigkeiten von niemandem ernst genommen. Kurz und gut: Der sgv hat seine Rolle als Interessenvertreter der KMU wahrgenommen und gleichzeitig seinen starken Arm ins Parlament hineinwirken lassen. Laut oder leise: Für beides gibt es den richtigen Moment. Und am Ende geschieht beides im Interesse der KMU, die der sgv vertritt.

Interview: Gerhard Enggist

www.sgv-usam.ch

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